Donnerstag, 13. Oktober 2011

Die griechische Rentenlüge und andere Vorurteile

Wer deutsche Boulevardzeitungen* liest, der glaubt zu wissen: der Grieche ist faul. Er vertrödelt die Tage beim Tavlispiel, sitzt stundenlang diskutierend im Straßencafé oder döst in einer Strandtaverne vor sich hin. Spätestens mit Mitte 50 verabschiedet sich der Grieche aus dem Berufsleben und geht in Rente. Alles auf unsere Kosten, natürlich.
Zunächst zur Rentenlüge: das tatsächliche mittlere Renteneintrittsalter in Griechenland liegt bisher bei 61,4 Jahren. Das entspricht genau dem EU-Durchschnitt. Die Deutschen gehen mit durchschnittlich 61,7 Jahren in Rente, arbeiten also gerade mal 14 Wochen länger. Wenn Griechenland die im vergangenen Jahr beschlossene Rentenreform voll umgesetzt hat, was 2015 der Fall sein soll, dann werden die Griechen sogar die längste Lebensarbeitszeit in Europa nach den Schweden haben.
Wenn man die längeren Arbeitszeiten in Griechenland berücksichtig, wird das Vorurteil von den „faulen Griechen“ erst recht unhaltbar. Während die Deutschen im Schnitt 36 Stunden pro Woche arbeiten, die Spanier und Portugiesen je 39 Stunden und die Holländer sogar nur 31, malochen die Griechen im Schnitt 42 Wochenstunden.
Allerdings – und das ist eine wichtige Einschränkung – schaffen sie in dieser längeren Arbeitszeit viel weniger als andere. Während die Griechen im statistischen Mittel in einer Arbeitsstunde eine Wirtschaftsleistung von 18,5 Euro erbringen, sind es in Spanien 24,4 Euro, in Deutschland 38,7 Euro und in Holland sogar 39,5 Euro. Unproduktiver als die Griechen sind in Westeuropa nur die Portugiesen mit 13,8 Euro pro Arbeitsstunde.
Die niedrige Produktivität ist einer der Gründe für die Schuldenkrise Griechenlands. Wer Griechenland kennt, der weiß allerdings: das liegt nicht am mangelnden Fleiß oder am DNA. Auch meine Produktivität ist in Griechenland viel niedriger als etwa in Deutschland, weil ich sehr viel Zeit mit nutzlosen Dingen verplempern muss. Jeder Behördengang dauert hier, über den Daumen gepeilt, zwei bis dreimal so lange wie in Deutschland. Ein Besuch bei der Bank, der sich auch im Zeitalter des e-Banking nicht immer vermeiden lässt, bringt ebenfalls lange Wartezeiten mit sich. Vergangene Woche musste ich ein Einschreiben beim Postamt abholen, weil mich der Briefträger, der im Schnitt nur alle zwei Tage vorbeikommt, nicht angetroffen hatte – Wartezeit: gestoppte 46 Minuten. Der schlechte Zustand der öffentlichen Nahverkehrsnetze, die ständigen Streiks, die schwerfällige, um nicht zu sagen obstruktive Bürokratie: all das bremst Griechenland bei der Produktivität aus.
Es dürfte wenige Länder geben, in denen die Menschen so viel Zeit mit Warten und Anstehen verbringen. Die Marktforschungsgesellschaft Global Link untersuchte im vergangenen Jahr, wie lange ein Kunde in 19 europäischen Ländern im Schnitt bei Banken, Postämtern, an der Supermarktkasse, in der Apotheke, im Restaurant und an der Bushaltestelle warten muss. Für 18 Länder errechneten die Marktforscher einen Mittelwert von acht Minuten. In Griechenland waren es 14 Minuten.
Quelle: Handelsblatt
*Das betrifft nicht nur den Boulevard, sondern auch die "Qualitätsmedien", Politiker, Experten und Wirtschaftsleute.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen