Sonntag, 10. Juni 2012

Kapitalismus: Tendenz zur Fäulnis

Lenin untersuchte 1916 den Zusammenhang von Imperialismus und Spaltung der sozialistischen Bewegung in Kriegsgegner und Kriegsunterstützer, Revolutionäre und Reformisten:
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und jenem ungeheuerlich widerwärtigen Sieg, den der Opportunismus (in Gestalt des Sozialchauvinismus) über die Arbeiterbewegung in Europa davongetragen hat?
Das ist die Grundfrage des heutigen Sozialismus. Und nachdem wir 1. den imperialistischen Charakter unserer Epoche und des gegenwärtigen Krieges, 2. den unlösbaren historischen Zusammenhang zwischen Sozialchauvinismus und Opportunismus wie auch ihren gleichen ideologisch-politischen Gehalt in unserer Parteiliteratur einwandfrei festgestellt haben, können und müssen wir zur Analyse dieser Grundfrage übergehen.
Wir müssen mit einer möglichst genauen und vollständigen Definition des Imperialismus beginnen. Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus. Der Monopolismus tritt in fünf Hauptformen zutage:
1. Kartelle, Syndikate und Truste; die Konzentration der Produktion hat eine solche Stufe erreicht, daß sie diese monopolistischen Kapitalistenverbände hervorgebracht hat;
2. die Monopolstellung der Großbanken: drei bis fünf Riesenbanken beherrschen das ganze Wirtschaftsleben Amerikas, Frankreichs, Deutschlands;
3. die Besitzergreifung der Rohstoffquellen durch die Truste und die Finanzoligarchie (Finanzkapital ist das mit dem Bankkapital verschmolzene monopolistische Industriekapital);
4. die (ökonomische) Aufteilung der Welt durch internationale Kartelle hat begonnen. Solcher internationalen Kartelle, die den gesamten Weltmarkt beherrschen und ihn »gütlich« unter sich teilen – solange er durch den Krieg nicht neu verteilt wird –, gibt es schon über hundert! Der Kapitalexport, als besonders charakteristische Erscheinung zum Unterschied vom Warenexport im nicht-monopolistischen Kapitalismus, steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und der politisch-territorialen Aufteilung der Welt;
5. die territoriale Aufteilung der Welt (Kolonien) ist abgeschlossen.
Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus Amerikas und Europas und in der Folge auch Asiens hat sich in den Jahren 1898 bis 1914 voll herausgebildet. Der Spanisch-Amerikanische Krieg (1898), der Burenkrieg (1899–1902), der Russisch-Japanische Krieg (1904–1905) und die Wirtschaftskrise in Europa im Jahre 1900 – das sind die wichtigsten historischen Marksteine der neuen Epoche der Weltgeschichte.
Daß der Imperialismus parasitärer oder faulender Kapitalismus ist, zeigt sich vor allem in der Tendenz zur Fäulnis, die jedes Monopol auszeichnet, wenn Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht. Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie verwischt sich gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault (was eine erstaunlich rasche Entwicklung des Kapitalismus in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern, in einzelnen Perioden keineswegs ausschließt). Zweitens zeigt sich der Fäulnisprozeß des Kapitalismus in der Entstehung einer gewaltigen Schicht von Rentiers, Kapitalisten, die vom »Kuponschneiden« leben. (…) Drittens ist Kapitalexport Parasitismus ins Quadrat erhoben. Viertens »will das Finanzkapital nicht Freiheit, sondern Herrschaft«. Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus. Korruption, Bestechung im Riesenausmaß, Panamaskandale jeder Art. Fünftens verwandelt die Ausbeutung der unterdrückten Nationen, die untrennbar mit Annexionen verbunden ist, und insbesondere die Ausbeutung der Kolonien durch ein Häuflein von »Groß«mächten die »zivilisierte« Welt immer mehr in einen Schmarotzer am Körper der nichtzivilisierten Völker, die viele hundert Millionen Menschen zählen. Der römische Proletarier lebte auf Kosten der Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft lebt auf Kosten des modernen Proletariers. Dieses treffende Wort Sismondis pflegte Marx besonders hervorzuheben. Der Imperialismus verändert die Sache etwas. Die privilegierte Oberschicht des Proletariats der imperialistischen Mächte lebt zum Teil auf Kosten der vielen hundert Millionen Menschen der nichtzivilisierten Völker.
Wladimir Iljitsch Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus. Geschrieben im Oktober 1916. Veröffentlicht im Dezember 1916 im Sbornik Sozial-Demokrata Nr. 2. Hier zitiert nach: W. I. Lenin: Werke Band 23. Dietz Verlag, Berlin 1968, Seiten 102–104
(c) jW

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