Mittwoch, 7. Oktober 2009

Gegen den Strom

Ulrike Meinhof 1960 als Chefredakteurin der Zeitschrift Konkret. Foto: Ullstein Bilderdienst

Ulrike Meinhof wäre heute 75 Jahre alt geworden. Erinnerungen an ihre Stiefmutter
Von Anja Röhl

Ich schwimme gegen den Strom, da dreht sich der Strom um, schwimmt mir nach …, diesen Satz schrieb mir Ulrike Marie Meinhof, als ich elf Jahre alt war, in mein Poesiealbum. Und seriöse Journalistin, die sie war, gab sie auch die Quelle an: …von Heike Dotiné. Ich habe das Buch längst nicht mehr, aber ich sehe den Satz glasklar vor mir, klein, kurz und beinahe unbedeutend. Etwas darin klang befremdlich für mich, kann ein Strom nachschwimmen?

Von klein auf hatte mich Unrecht empört, mich zum Nachdenken gebracht und zum Handeln gezwungen. Fieberhaft hatte ich mir Lösungen ausgedacht und durch den Kopf gehen lassen. Es war so vieles, was ich als ungerecht empfand: was Menschen weh tat, was Schwächeren angetan wurde, was Kinder zum Weinen brachte. Ich konnte das Gefühl, machtlos zu sein, nicht ertragen.

Meine Mutter weinte durch die Zimmertüren, und ich lief hinüber und wollte ihr helfen. Nachbarskinder schrien jämmerlich neben meiner Kinderzimmerwand, und ich hörte über Stunden das Klatschen der Schläge, das sie doch nicht beruhigen konnte. Ich lief zu meiner Mutter, ob sie nicht rübergehen könnte und führte lange Diskussionen mit ihr darüber, daß man doch helfen müsse. Der Junge, mit dem ich auf unserem Hof immer spielte, ließ sich für seinen kleinen Bruder verprügeln, er meinte, das müsse er aushalten, ich war dagegen.

Die Nachbarsfrau weinte über viele Stunden, ihr Mann brüllte sie laut und wütend an, und wenn ich an der Tür klingelte und nach ihrem Sohn fragte, ob der rauskäme, machte sie die Tür nur einen Spalt auf. Ein Junge wurde im Kindergarten gehänselt, weil er ein Angeber war. Er war mir nicht sympathisch, aber ich ging mit ihm zusammen nach Hause, weil ich es gemein fand, daß alle gegen einen allein waren. Und als ich mich mit ihm angefreundet hatte, konnte ich den anderen sagen, daß er bei sich Zuhause ganz anders sei. Er lebte wie ich allein mit seiner Mutter und nahm mich einmal mit zu seiner Großmutter, die in Trittau in einem alten Häuschen wohnte, mit hohem Gras, was mir unvergeßlich geblieben ist.

Im Kindergarten mußten wir dickbreiige Linsensuppe essen, in der harte Speckschwarte schwamm, die sich nicht runterkauen ließ, egal wie lange man es versuchte. Das fand ich ungerecht, denn man konnte es nicht essen, es ging einfach nicht, aber wir bekamen keinen Nachtisch, wenn wir nicht aufaßen und mußten schummeln, aber ich wollte nicht schummeln. Ein Mädchen mußte allein schaukeln und spielen, weil es stank und sich bepinkelt hatte, vor ihr hatten wir alle Angst und musterten sie aus der Ferne. Ich fragte mich, wenn ich nun dieses Mädchen wäre? Die Tanten im Kindergarten meckerten, daß wir gefälligst schlafen sollten, doch wir konnten nicht auf Befehl schlafen. Das müssen die Erwachsenen doch auch nicht, warum dann die Kinder? Ein dickes Mädchen wurde auf der Klassenfahrt geärgert, ich konnte das nicht aushalten und lief zur Lehrerin, nicht um zu petzen, sondern zu diskutieren, was man da machen könne.

Ein Mädchen hatte taubstumme Eltern, die immer zu zweit kamen und die keiner verstand, einmal sah ich sie mit ihren Eltern ohne Worte ganz viel »sprechen«, ich fand das bewundernswert. Es war gemein, daß keiner mit ihr spielen wollte und sie immer die schlechtesten Noten bekam, als sei sie dumm, wo sie doch augenscheinlich sehr klug war.

Mein Vater hatte Geld und gab immer ganz viel davon aus, für neue Autos, für teure Urlaube, für gute Jacketts, er prahlte damit vor mir und sagte immer: »Was willst du haben, ich kaufe es dir!« Ich fand es gemein, daß er meiner Mutter nichts davon abgab und nahm nur Eisbecher und Kinobesuche an. Daß er ständig neue Autos fuhr, war mir peinlich.

Meine Mutter sagte, sie verdiene nur 300 Mark im Monat und mußte doch den ganzen Tag bis abends um sechs dafür arbeiten, mein Vater sagte, für ein gutes Mittagessen müsse man mindestens 50 Mark hinlegen, sonst tauge es nichts, aber er stand meist erst gegen Mittag auf.

Meine Mutter erzählte mir, daß mein Vater nur unregelmäßig 150 Mark im Monat für mich zahlte und es oft »vergesse«. War ich ihm nicht mal drei Mittagessen wert?

Die Amerikaner warfen mit Napalm auf Kinder. Was ist Napalm, fragte ich meine Mutter und sie erklärte, daß es ein Feuer sei, das auf der Haut nicht aufhöre zu brennen, auch wenn man es mit Wasser löschen würde. Was konnten die Kinder dafür?

Manche Kinder hatten beide Eltern, und die Mutter erwartete sie an der Tür, wenn sie aus der Schule kamen. Sie aßen jeden Mittag zu Hause mit Vater und Mutter. Bei meiner Freundin Susann und mir war es so, daß wir immer mit unseren Vätern irgendwohin gingen und dann warten mußten, bis sie uns abholten. Oft kamen sie nicht, obwohl sie es versprochen hatten. Und oft sagten größere Jungen, Mädchen können das nicht, aber warum sollten wir etwas nicht ebenso gut können? Frauen sind dümmer als Männer, sagte mein Kunstlehrer, als ich nach einer Steckdose fragte. Neger sind dümmer als Weiße, sagte ein Weißer zu James Baldwin, und sie spuckten sein Mädchen an, da sie eine Hure sei, wenn sie mit ihm ginge. Die Indianer bei Karl May wurden ermordet, nur weil sie so gutgläubig waren und der weiße Mann ihr Gold wollte. Du bist ein widerliches, dummes Gör, sagte meine Mutter, als ich eine andere Meinung vertrat als sie, obwohl ich doch immer zu ihr gehalten hatte.

Als ich beim »Mensch ärgere dich nicht« weinte, weil ich gegen meinen Vater und sie verloren hatte, stand die unbekannte Frau mit der dunklen Stimme auf und sagte, ein Kind könne unmöglich gegen zwei Erwachsene gewinnen, und das sei ein ganz dummes Spiel. Auf den langen Autofahrten, wenn mich Ulrike Meinhof nach Hause fuhr, nachdem ich bei meinen Geschwistern gespielt und eingehütet hatte, erklärte sie mir, daß meine Mutter nicht böse sei, wie ich beklagte, sondern arm dran, da mein Vater zu wenig Geld für sie zahle und sie ruhig zum Gericht gehen solle, er hätte genug Geld.

Als ich mit elf Jahren einen Tag ganz starkes Bauchweh hatte, bettete sie mich auf ihr Sofa und deckte mich mit ihrer weichen Decke zu, und als mein Vater kam und mich auslachte, weil ein deutsches Mädchen nicht weinen dürfe und Tageschmerzen keine Krankheit seien, fuhr sie ihn an und sagte, daß er das wohl kaum beurteilen könne. Als sie mit ihm Streit hatte, sagte sie, daß es seine Erziehung sei und er nichts dafür könne, da sein Vater ihn in seiner Kindheit schlecht behandelt hätte, er das auch wisse und sich meist bald wieder beruhige und sie das schon mit ihm hinkriegen würde.

Wenn im Fernsehen Flugzeuge gezeigt wurden, die krachende Bomben abwarfen über Hütten, die in Flammen aufgingen und Kinder, die aus diesen Hütten liefen, weinten und schrieen, sagte Ulrike, man müsse verhindern, was da geschehe. Einmal erlebte ich, wie alle lachten, weil sie zum Scheren eines Schafes gedrängt, die Schere unglücklich angesetzt, das Schaf ein wenig verletzt und darüber zu weinen angefangen hatte. Dann wurde sie allerdings wütend und sagte, sie habe ja gleich gesagt, daß sie das nicht könne. Ich wollte die anderen anschreien, aber sie konnte sich selbst gut wehren.

Als sie einmal im Fernsehen auftrat, blieb sie ruhig, auch als ihr die anderen die Worte im Mund verdrehen wollten, und sie überzeugte durch Vernunft und Argumente.

Als ich verzweifelt war und einsam, in Schule und Internat von schreiendem Unrecht umgeben, schrieb sie mir tröstende Worte und sagte, daß ich mir Freunde suchen müsse, denn nur so könne man sich wehren.

Dann kam Josi Hubalek, mit der zusammen ich immer meine Briefe gelesen hatte, in den Speisesaal und fragte, ob ich es noch nicht wüßte, Ulrike würde wegen Mordes gesucht und ich schrie und dachte, sie habe meinen Vater umgebracht und was meine Geschwister machen würden. Aber dann erklärte sie mir, daß es etwas Politisches sei und es nur ein Plakat gäbe und keinen Beweis und daß sie nur aus einem Fenster gesprungen sei. Und daß es ungerecht sei, daß nur nach ihr gefahndet wurde, das fanden wir beide, und dann beruhigte ich mich wieder, denn nun glaubte ich gar nichts mehr, wer weiß, dachte ich, wie sie alle wieder lügen, wie sie schon immer und ewig gelogen haben. Erst mal abwarten, dann will ich mir eine eigene Meinung bilden.

Und als mich die Tanten zu sich riefen und fragten, in welchem Verhältnis ich zu ihr gestanden hätte, da sagte ich, Ulrike Meinhof sei die Mutter meiner Geschwister. Und als sie mir erklärten, um so einen Menschen lohne es sich nicht zu weinen, da schwieg ich eisern und dachte: Die wissen nicht, was ich weiß. Mir kann keiner was über Ulrike erzählen, ich habe meine eigene Meinung.


(Quelle: Junge Welt)

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