Montag, 7. August 2023

Zurück in die Steinzeit?

 

Deutschland ist im Niedergang. Nicht erst seit Corona und dem Ukraine-Krieg. Schon lange sind relevante Leistungsindikatoren im Trend negativ. Produktivitätsverbesserungen waren über lange Zeit Deutschlands Markenzeichen – seit vielen Jahren aber steigen die Lohnstückkosten. Deutschland ist nicht mehr unter den ersten zehn Ländern Europas beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Aus der Liste der 20 wettbewerbsfähigsten Länder der Welt sind wir herausgefallen.
16 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel waren selbst für ein so starkes Land wie Deutschland zu viel. In der Ära Merkel gab es nicht eine einzige Strukturreform, die das Land leistungsfähiger gemacht hätte. Wohl aber wirken zwei fundamentale Entscheidungen dauerhaft nach: die Energiewende und die Öffnung der Grenzen für unkontrollierte Migration. Die Energieversorgung wurde sehr viel teurer. Die Kultur des Landes veränderte sich, und die Sozialsysteme sind unter Druck geraten.
Situatives Reagieren hinter der Trendwelle war Merkels Politikstil, statt einen strategisch durchdachten Zukunftsplan konsequent umzusetzen. Seit nunmehr fast 20 Jahren wird viel zu wenig in die Zukunft des Landes investiert. Kontinuierlich ausgebaut wurde nur der Sozialstaat. Gespart wurde an präventiver Instandhaltung. Schienensysteme, Straßen, Brücken, Schulen und öffentliche Einrichtungen haben massiv gelitten. Für ein so reiches Land wie Deutschland ist der Zustand der Infrastruktur eine Schande. Wegen überbordender Bürokratie steht die mangelhafte Dienstleistung des Staates für die Bürger in eklatantem Gegensatz zur ständig steigenden Steuer- und Abgabenlast.
Und was die deutsche Bürokratie nicht schafft, besorgt Brüssel. Ein Unternehmen wie BASF hat mit 14.000 Seiten Verordnung für die Regulierung der Chemieindustrie zu kämpfen. Das Lieferkettengesetz wird die Bürokratiekosten der Unternehmen massiv in die Höhe treiben, und die öffentliche Verwaltung hat die Digitalisierung komplett verschlafen.
Vieles, wofür Deutschland einmal weltweit bewundert wurde, funktioniert nicht mehr. Wie konnte all das passieren?
In Jahrzehnten der Prosperität ist ein neues Leitbild entstanden. Sein Kern: anstrengungsloser Wohlstand und Abkehr vom Leistungsgedanken. 25 Prozent der Grundschulabsolventen erfüllen nicht die Basisanforderungen. Jetzt wurden in der Grundschule für die Bundesjugendspiele Maßband und Stoppuhr abgeschafft. Zu viel Leistungsdruck! Die massive Verschlechterung der Pisa-Ergebnisse deutscher Schüler spricht Bände.
Wie aber will Deutschland in den nächsten Jahren im globalen Wettbewerb bestehen, wenn Leistung weder gefördert noch belohnt wird? Wenn man Besserverdienende steuerlich abstraft und gleichzeitig mit dem neuen Bürgergeld weiter in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen geht? Wer Gerechtigkeit als Gleichheit interpretiert und damit jegliche Leistungsorientierung untergräbt, wird in einer sich schnell verändernden Welt mit rapiden technologischen Umbrüchen zum Verlierer werden.
Die logische Folge: Der Staat muss mehr und mehr zum Garanten persönlicher Lebensrisiken werden. Damit übernimmt er sich hoffnungslos. Die Staatsquote ist mittlerweile auf 50 Prozent angewachsen. Die Staatsgläubigkeit nimmt zu – die Unterstützung der Marktwirtschaft sinkt.
In einer so kritischen Phase, in der alle relevanten Leistungsindikatoren des Landes negativ sind, müssten bei den Politikern alle Alarmglocken läuten. Aber seit der Flut im Ahrtal wissen wir ja, dass in Deutschland auch Alarmsysteme nicht mehr funktionieren.
Wieso wird über diese Themen öffentlich so wenig diskutiert? Weil der Fokus der Aufmerksamkeit seit langem auf einem Thema liegt: dem Klima. Kein anderes Land der Welt verfolgt eine dümmere Klimapolitik als Deutschland, wo man das Weltklima quasi im Alleingang retten will.
Dazu schalten wir in Zeiten eklatanten Energiemangels perfekt funktionierende Atomkraftwerke ab. Ersetzt wird der Strom unter anderem durch Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Deutschland. Wie glaubwürdig ist so eine Klimapolitik? Für lange Zeit werden wir den nach Polen schmutzigsten Strom Europas haben – und keinen nennenswerten Beitrag für den Klimaschutz leisten.
Der Webfehler der deutschen Energie- und Klimapolitik besteht in der Maxime: „All Electric – Renewables Only“. Alles soll elektrifiziert werden: Autos, Heizung, Industrie. Damit würde sich der Strombedarf schnell mehr als verdoppeln. Die Kapazitäten für Wind- und Solarstrom müssten mehr als vervierfacht werden. Da Wind- und Solarstrom eine hohe Volatilität aufweisen, bräuchten wir riesige Speicher- und Reservekapazitäten. Das jedoch ist für ein Land wie Deutschland weder technisch darstellbar noch bezahlbar. Es ist schlichtweg Irrsinn.
Schon vor dem Ukraine-Krieg war der deutsche Strom mit der teuerste der Welt. Durch die „Renewables Only“-Strategie wird er endgültig unbezahlbar. Wenn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagt, man müsse jetzt den Industriestrompreis für ein paar Jahre subventionieren, bis dann flächendeckend der billige Wind- und Solarstrom verfügbar ist, bewegt er sich in der Welt der Märchen – oder er belügt die Bürger.
Habecks Plan für „Renewables Only“ wird scheitern. Er und die Grünen sind gemeinsam mit einer großen Glaubensgemeinschaft links-grüner Journalisten auf einer ideologischen Reise, die Deutschland in gigantische Wohlstandsverluste führt.
Klug wäre stattdessen eine Zwei-Säulen-Strategie. Der Anteil von Wind- und Solarstrom sollte auf circa 50 Prozent begrenzt bleiben. Die zweite Säule der Versorgung wäre idealerweise durch Atomkraft zu bilden. Das aber scheint nicht mehr durchsetzbar zu sein. Also bietet sich an, diese Säule über Gaskraftwerke mit Carbon-Capture zu schaffen, damit auch CO₂-frei.
Bei solch einem Mix wäre die Volatilität der Erneuerbaren beherrschbar. Auch die meisten Industrieprozesse könnten auf Gas mit Carbon Capture umgestellt werden. Sie wären CO₂-frei und sehr viel billiger als der favorisierte Weg über grünen Wasserstoff. Stattdessen betreiben Habeck & Co. dogmatische Klimapolitik, abgekoppelt von Kostenbetrachtungen, und ruinieren so den Industriestandort.
Aus grüner Sicht allerdings ist das auch nicht wirklich ein Problem, denn das eigentliche Ziel grüner Politik ist der Umbau der Gesellschaft. An die Stelle des wachstumsgetriebenen Kapitalismus soll eine Degrowth-Gesellschaft des Verzichts treten. Nur so kann es zu den gewünschten Verhaltensänderungen in Richtung Konsumverzicht kommen.
Für diesen Umbau der Gesellschaft ist eine permanente Moralisierung der Debatte sehr hilfreich. Das fachliche Hinterfragen grüner Glaubensbekenntnisse soll unterbunden werden, selbst die Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommen immer seltener ohne den erhobenen Zeigefinger aus, der aber nicht der Regierung, sondern vor allem der Bevölkerung gilt.
Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, wird Deutschland weiter zurückfallen. Das wird dann aber zum Problem für ganz Europa. Denn mit dem Euro wurde de facto eine Haftungs- und Transfer-Union errichtet, in der Deutschland als letzte Instanz haftet. Sollte Deutschland aber zum kranken Mann Europas werden, ist das AAA-Rating in Gefahr. Der Tag, an dem Deutschland dieses Rating verliert, wird zum D-Day für das Eurosystem. Schließlich ist der Euro ohnehin der historisch größte Feldversuch für eine Einheitswährung ohne Fiskalunion und damit fragil.
Insofern ist die deutsche Politik mit ihrer Abkehr von Leistung, dem Anstreben von Gleichheit und dem Verfolgen einer unverantwortlichen Klimapolitik eine Gefahr. Nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Dieser unheilvolle Trend muss gestoppt werden. Deutschland braucht eine Zäsur, eine faktenbasierte Politik der Vernunft und 
Marktwirtschaft. 
Es bedarf jetzt dringend einer schonungslosen Bestandsaufnahme und eines Eingeständnisses, dass viele Fehlentwicklungen viel zu lange nicht korrigiert wurden. Vor allem aber brauchen wir einen neuen Grundkonsens in unserer Gesellschaft jenseits der Work-Life-Balance-Kultur.
Wohlstand ohne Leistung ist Illusion. Ohne Wohlstand kein funktionierender Sozialstaat. Wohlstand gedeiht nur auf dem Humus der Marktwirtschaft, nicht der Planwirtschaft. Wir brauchen einen schlanken, dabei aber effizienten Staat. Wir brauchen ein Schul- und Bildungssystem mit Fokus auf Qualität und Anspruch. Vor allem aber brauchen wir eine schnelle Korrektur der ideologischen Klimapolitik. Sie schadet dem Land und bewirkt wenig bis nichts für den Klimaschutz.
Das alles aber ist nur möglich, wenn eine offene Debatte geführt werden kann, wenn Deutschland wieder zu einem echten marketplace of ideas wird, auf dem hart in der Sache, aber fair im Umgang diskutiert wird, statt sich ständig im Moralisieren zu verlieren. Und das Land muss eine Tugend wiederentdecken, die irgendwo zwischen der Agenda 2010 und heute verloren gegangen ist: Ambition.

(c) WELT

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