Im März 2017 veröffentlichte die Welt (hier und hier) gleich zwei Artikel von Matthias Heine, in denen sich großteils überschneidend die "Mode der Nazi-Vergleiche" aus historischer Sicht betrachtet wird. Nachfolgend wurden die Inhalte beider Artikel zusammengefasst.
Die Mode der Nazi-Vergleiche beginnt schon 1924, und sie endet nicht an Reinhard Meys Gartenzaun. Eine kleine Kulturgeschichte
Die ersten Nazis waren die Sozis. Zumindest, wenn es nach den Kommunisten ginge. Bereits 1924, als noch kaum jemand das Wort Nazi benutzte, prägte der sowjetische Ideologe Grigorij Sinowjew die Sozialfaschismusthese. Ihm zufolge stellte die Sozialdemokratie den „linken Flügel des Faschismus“ dar und war daher vorrangig zu bekämpfen.
Mit dieser erst 1935 zugunsten der Volksfrontpolitik verworfenen Theorie beginnt die Geschichte der Nazi-Vergleiche. Das ist ein Axiom, von dem jede Kulturgeschichte der polemischen Gleichsetzung politischer Gegner mit den Nazis ausgehen muss. Denn da Mussolinis Marsch auf Rom 1924 erst fünf Jahre zurücklag und die NSDAP zu diesem Zeitpunkt noch eine Splitterpartei war, hätte es vorher auch gar keinen Sinn gehabt, irgendjemanden, der keine braune oder schwarze Uniform trug und nicht Mitglied einer der beiden genannten Bewegungen war, als Nazi oder Faschist zu bezeichnen. Niemand hätte es verstanden.
Die Reaktion der SPD in der Weimarer Republik lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Selber Faschisten! 1930 erklärte Kurt Schumacher vor Angehörigen des Reichsbanners: „Der Weg der leider ziemlich zahlreichen proletarischen Hakenkreuzler geht über die Kommunisten, die in Wirklichkeit nur rot lackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten sind. Beiden ist gemeinsam der Hass gegen die Demokratie und die Vorliebe für Gewalt.“
Zuvor hatte schon Mitte der 20er-Jahre der Liberale Giovanni Amendola in Italien Kommunisten und Faschisten gleichgesetzt, beide seien eine „totalitäre Reaktion auf Liberalismus und Demokratie“.
Nazi-Vergleiche halfen dann später, das einzuleiten, was heute unter der Epochenchiffre 1968 zusammengefasst wird. Der Sommer des Jahres 1967 darf getrost als „Sommer der Faschismusvorwürfe“ bezeichnet werden. Rebellische Studenten riefen ihren Hochschullehrern „Faschist!“ hinterher, und diese nannten Sit-ins „faschistische Methoden“. Ein amerikafreundlicher Vortag von Max Horkheimer wurde von Linken als „Apologie des Faschismus“ bezeichnet. Daraufhin artikulierte Horkheimer in einem Brief seine „Furcht vor der Verwandtschaft dessen, was heute sich kommunistisch nennt, mit faschistischem Terror“. Spätestens ein Jahr später skandierte man bei jeder Demonstration gegen den Vietnamkrieg: „USA-SA-SS!“.
Die Sprachmode war international. Jean-Luc Godard hatte sie schon 1966 in seinem Film „Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ ad absurdum geführt. Da dreht sich der von Jean-Pierre Léaud gespielte Paul im Kino zu einem Störer um, der im Dunkeln redet, und zischt ihn an: „Faschist!“
Damit beginnt im Grunde schon die völlige Aufweichung des Nazi- beziehungsweise Faschisten-Begriffs. Wie sehr Nazi um die Jahrtausendwende zum Universalschimpfwort geworden war, belegt ein Streit, den der Liedermacher Reinhard Mey mit den Anrainern seines Grundstücks in Kampen (Sylt) 2002 ausfocht. Weil sie ständig laut ihren Rasen mähten, nannte er sie in der Lokalzeitung „Gartennazis“. Als Schöpfer dieses Worts wies er philologisch korrekt den Liedermacherkollegen Ringsgwandl aus, der damit „fanatische Rasenstutzer, Heckenspießer und Halmausrotter“ gemeint habe. Über den Wolken muss die Freiheit zum Nazivergleich wohl grenzenlos sein.
Das Englische ist auf dem Weg der Entnazifizierung des Wortes Nazi deutlich weiter fortgeschritten. Hier nennen Menschen, die auf korrektes Englisch achten, sich manchmal selbst ironisch grammar nazis, und Leute, die viel Sport treiben, können als aerobic nazis, gym nazis usw. verhöhnt werden.
Im Internet kursierte vorige Woche eine satirische Landkarte, die Europa aus der Sicht des türkischen Präsidenten Erdogan zeigt – nach dem Motto „Alles Nazis außer Mutti“. Die Schweizer firmieren darin als Banknazis, die Franzosen als Froschnazis, die Isländer als Geysirnazis und die Deutschen als Originalnazis TM.
Die Türkei ist gerade dabei, Polen den Weltmeistertitel im Nazivergleichen streitig zu machen. Aber das hat bereits vor einigen Jahren Griechenland vergeblich probiert. Denn Polen verteidigt den Titel hartnäckig. Und irgendwie bringt man bei einem Land, das im Zweiten Weltkrieg Hitlers erstes Opfer war und sechs Millionen Tote zu beklagen hatte, auch ein gewisses Verständnis für Naziparanoia entgegen.
Neuerdings wird ja die These vom Islamofaschismus diskutiert. Was insofern sehr lustig ist, weil Thomas Mann einmal den Nationalsozialismus in seinen Radiosendungen als „Hintertreppenislam“ bezeichnet hat. Und Hitler hat, wenn man Albert Speer glauben darf, bei seinen Tischgesprächen bedauert, dass Karl Martell 732 bei Tours und Poitiers die islamische Eroberung Europas gestoppt hat. Ihm wäre angeblich ein muslimisches Deutschland lieber gewesen als ein vom pazifistischen Geist Jesu Christi angekränkeltes.
Gibt es eigentlich noch irgendeine Menschengruppe, die noch nicht mit Nazis verglichen wurde. Die Russen, die immerhin 20 Millionen Tote im Kampf gegen Hitler verloren haben? Das hat den Russen-Hitler Schirinowski genauso wenig verhindern können wie die Verballhornung von Putins Namen zu Putler.
Die Juden vielleicht? Nein, dieses Tabu brechen schon lange die Aktivisten der Boykottbewegungen gegen Israel. Und in Israel selbst musste 2014 ein Gesetz erlassen werden, das es untersagte, politische Gegner als Nazis zu beschimpfen. Der Grund dafür war, dass ultraorthodoxe Gruppen und radikale Siedler ihre politischen Gegner und die Sicherheitskräfte zunehmend häufig so nannten.
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