(Die Analyse anspruchsvoller, weil erleuchtender Texte hat ergeben:)
Ob man Spargel jetzt mit den Fingern essen darf, oder wie die angemessene Begrüßung des Abteilungsleiters auf dem Büroflur benimmgerecht auszufallen hat, das weiß man nach der Lektüre dieses gut 100 Seiten umfassenden und angenehm gestalteten Bändchens nicht. Mag der Titel »Benehmt euch!« auch nahelegen, daß es sich um einen Knigge für das digitale Zeitalter handelt, so läßt der Untertitel, »Ein Pamphlet«, schon erahnen, daß es Stefan Gärtner und Jürgen Roth eher um eine Streitschrift geht denn um einen Ratgeber.
So machen sich die beiden Autoren herzerfrischend ans polemische Werk. Im ersten Kapitel dokumentieren sie treffliche Alltagsbeispiele für die zunehmende Verrohung. Die sattsam bekannten Handyterroristen, die in aller Öffentlichkeit lautstark intime Lebensdetails in ihre elektronischen Kleingeräte brüllen, werden ebenso mit berechtigtem Spott überzogen wie jene leistungsfaschistoiden Eltern, die vom Spielfeldrand aus das Treiben ihrer Zöglinge mit menschenverachtenden Zurufen befeuern. Da ist die Tötung eines Schiedsrichters durch gänzlich verrohte Spieler auch nicht mehr überraschend.
Die Verrohungsbeispiele, die Gärtner und Roth hier breit auffächern, beschränken sich keineswegs auf die als »Prekariat« in die Medien geschleuste Bevölkerungsgruppe. Auch die »Ganzkörperellbogen«, die ihre panzergroßen Luxusgeländewagen im öffentlichen Raum bewegen und abstellen, als seien sie alleine auf der Welt, geraten ins Visier.
Daß derlei Verrohung mit systemischer und systematischer Verblödung einhergeht, wird im zweiten Kapitel dargelegt. Ob Bologna-Prozeß, Turbo-Abitur, daraus resultierendes Bulimielernen oder Frühstücksfernsehen – die untersuchten Phänomene haben eins gemeinsam: An ihnen läßt sich nachweisen, daß Persönlichkeitsbildung und die Entwicklung eines kritischen Bewußtseins nicht nur unerwünscht sind, sondern verhindert werden. Daraus folgt im dritten Kapitel die Diagnose der Verkindung der Gesellschaft. Warenhäuser müssen zu Erlebniswelten werden, und je kindlicher und zappeliger ein Musikvideo daherkommt, umso größer ist die Aussicht auf millionenfache Klicks. Im vierten und letzten Kapitel wird das Verderben konstatiert. Das Fahrenlassen auch der letzten Hemmung, wenn es darum geht, Intimes und Persönliches im weltweiten Netz preiszugeben. Die aufs Nullniveau gesenkte Schamgrenze ermöglicht die fäkalsprachliche Vollentgleisung.
All dies wäre nichts weiter als eine Auflistung von beklagenswerten Entwicklungen und Phänomenen, wenn das Pamphlet es bei einer Bestandsaufnahme beließe. Viel erhellender ist aber die Tatsache, daß diese Beobachtungen vor einem gemeinsamen Deutungshintergrund beschrieben werden. Nämlich daß alles darauf hinausläuft, uns zu entindividualisieren, um uns zu gefügigen Bestandteilen des »Humankapitals« zu machen. Eine dergestalt organisierte Gesellschaft bemißt den Wert des einzelnen ausschließlich am Maß seiner Konsumbereitschaft.
Wer sich jetzt die Frage stellt, was dagegen getan werden kann, bekommt eine ebenso einfache wie verblüffende Antwort. Vielleicht müssen wir gar nichts tun. Vielleicht müssen wir etwas lassen. Das Arbeiten zum Beispiel. Drei Stunden am Tag sind genug. Gepriesen sei der Müßiggang. Daß sich darüber soziales und zivilisiertes Verhalten wie von selbst einstellen würde, ist zwar nicht gewiß, aber »Benehmt euch!« macht Lust, genau das auszuprobieren.
André Poloczek (jW)
Totalverblödung pur: Claudia Roth gehört zu denen, die in Sachen Verblödung immer einen Schritt voraus sind.
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