Dienstag, 2. November 2010

VS: bundesdeutsche 'Stasie' schläft nicht

Leider gibt es im Rechtsstaat Deutschland keine Offenlegung von Geheimdienstakten, soweit es nicht um Akten der abgewickelten Stasi geht – und zwar weder für die Forschung noch für betroffene Bürger. Das liegt daran, daß für Verschlußsachen mit der Einstufung »vertraulich« oder »geheim« statt der üblichen 30jährigen Sperrfrist eine 60jährige gilt. Keinerlei Einblick in das Archivgut gibt es, wenn die Offenlegung das »Staatswohl« der Bundesrepublik gefährden würde – was häufig angenommen wird. Das Bundesverfassungsgericht will seine grundsätzlich als geheim eingestuften Verfahrensakten sogar erst nach 90 Jahren für die Forschung freigeben, im Fall des KPD-Verbotsverfahrens also erst im Jahr 2046. Solche Fristen, so die FAZ, kennt nicht einmal der Vatikan.
Was wirft mir dieser euphemistisch »Verfassungsschutz« titulierte Geheimdienst durch die Jahrzehnte hindurch eigentlich vor? Zunächst legte er mir meine beruflichen und ehrenamtlichen Kontakte zu angeblich »linksextremistischen« und »linksextremistisch beeinflußten« Gruppen zur Last. Dazu zählen politische Parteien wie die DKP, Organisationen wie die Rechtshilfegruppe »Rote Hilfe« oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), aber auch Presseorgane wie Demokratie und Recht, Blätter für deutsche und internationale Politik, Geheim, junge Welt oder Neues Deutschland, in denen ich neben vielen anderen Medien veröffentliche oder interviewt werde.
Nun, jeder Autor und jeder Referent freut sich über eine treue und kritische Leser- und Zuhörerschaft. Und so nahm ich durchaus mit Genugtuung zur Kenntnis, daß Bedienstete des Bundesamtes über mehrere Beamten-Generationen hinweg zu meinen treuesten Mitlesern und Mithörern gehörten – aber leider auch zu den verständnislosesten und böswilligsten...
Ein Ende dieses Prozesses ist nach fast fünf Jahren immer noch nicht abzusehen – aber es ist einiges passiert. Das Gericht hat das Bundesamt dazu verdonnert, meine gesamte Personenakte seit 1970 bis 2007 vorzulegen, was inzwischen geschehen ist – zum überwiegenden Teil allerdings mit geschwärzten Textstellen; ganze Seiten sind entnommen. Von allen über 2000 mir vorgelegten Aktenseiten sind circa 1 750 Seiten ganz oder teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht vorgelegt worden, also etwa 85 Prozent; nur rund 15 Prozent sind offen und vollständig lesbar.*
Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des Bundesinnenministeriums als oberster Aufsichtsbehörde des Bundesamtes zurück. Begründung: Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem »Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten«; die Funktionsfähigkeit des VS würde beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt werden (das nennt sich dann »Ausforschungsgefahr«). Und die Geheimhaltung diene in erster Linie dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe (»Quellenschutz«); denn eine Enttarnung dieser »Quellen« könne zu einer »Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit« von V-Leuten, Hinweisgebern und VS-Bediensteten führen. Als ob die – wohl von mir und meinesgleichen – Repressalien zu befürchten hätten.**
(c) Rolf Gössner (Junge Welt) 
Aufstehen gegen die permanente Einschränkung von Bürgerrechten: Rolf Gössner als Redner bei der »Freiheit statt Angst«-Demo 2009
Foto: Christian Ditsch/Version


Die ungekürzte Fassung des Beitrages, der auch die geheimdienstliche Durchleuchtung von Bodo Ramelow, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Thüringer Landtag, thematisiert, erscheint in der aktuellen Ausgabe von Ossietzky. Information und Bestellung unter: ossietzky@interdruck.net oder per Fax an: 0511/2155126.

* Diese Verfahrensweise ist auch mir bekannt und zwar bei der Einsichtnahme und den erstellten Kopien zu den MfS- Akten über meine Person
** Wer oder was sollte in meinem Fall von der Gauck- Behörde geschützt werden?

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