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Ausstieg in Fahrtrichtung
(c) Egon Müller, heise.de
Durchsageterror bei der Deutschen Bahn
Die Älteren werden sich vielleicht noch dunkel erinnern: Es gab einmal eine Zeit, da konnte man in einen Zug steigen und stundenlang fahren, ohne auch nur ein einziges Mal von einer Durchsage belästigt zu werden. Da in dieser glücklichen Ära die allermeisten Züge pünktlich waren, wusste der Reisende, wann er auszusteigen hatte. Mit welchen Anschlusszügen es weiterging, hatte er ohnehin schon vor der Fahrt ermittelt. Blieb nur noch die dramatische Frage: Auf welcher Seite steige ich aus? Dieses Problem ließ sich durch einen Blick aus dem Fenster lösen: Da, wo neben dem Zug der Bahnsteig auftauchte, sollte man tunlichst den Zug verlassen.
Auch das Bordrestaurant oder Bordbistro, damals noch "Speisewagen" genannt, konnte ohne Schwierigkeiten gefunden werden, denn es befand sich regelmäßig zwischen der ersten und der zweiten Klasse. Wer auf Nummer Sicher gehen wollte, hatte vor Beginn der Zugfahrt noch den Wagenstandanzeiger studiert und wusste somit genau, wo sich welcher Wagen befand, denn dass Züge mit umgekehrter oder geänderter Wagenreihung verkehrten, was heutzutage fast schon der Normalfall ist, kam so gut wie nie vor.
Damals gab es wagemutige Reisende, die sich einfach in den Speisewagen setzten und die Speisekarte studierten, ohne vorher darüber informiert worden zu sein, dass sie das dortige Personal gerne erwartet und ohne vom Zugpersonal eine Empfehlung erhalten zu haben.
In seltenen Fällen kam es zu Verspätungen. Dieser Sachverhalt wurde den Reisenden nicht explizit mitgeteilt, weil damals Jeder bei der Ausfahrt eines Zuges aus einem Bahnhof durch Vergleich der tatsächlichen Uhrzeit mit der planmäßigen Abfahrtzeit ohne größeren Rechenaufwand alleine feststellen konnte, wie viel Minuten Verspätung man hatte. Wer sich darob Sorgen machte, ob er wohl seinen Anschlusszug erreichen würde, wandte sich an den Schaffner, heute Zugbegleiter genannt, der ihm nach Rücksprache mit einer Leitstelle präzise Auskunft gab.
Auch damals gab es wohl schon Reisende, die zwar Englisch, aber kein Deutsch verstanden. Obwohl es für diese Kunden keine speziellen Durchsagen gab, ist nicht überliefert, dass sie regelmäßig hilflos in den Zügen saßen oder in Bahnhöfen umherirrten, zu denen sie gar nicht hinwollten.
Der Fahrgast von heute wird wie ein launisches, verzogenes, hilfloses Kind behandelt
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass man als Fahrgast seinerzeit darauf angewiesen war, alles mitzubringen, was man unterwegs zu brauchen meinte. Selbst in der ersten Klasse wurde man nicht alle 20 Minuten von Bahnangestellten belästigt, die einem kostenlose Zeitungen, Erfrischungstücher und Süßigkeiten darboten.
In diesen glücklichen Zeiten stieg man in einen Zug, ohne als neu zugestiegener Fahrgast herzlich begrüßt zu werden. Auch konnte man einen Zug wieder sang- und klanglos verlassen, ohne dass sich jemand bedankte, dass man mit der Bahn gefahren war und einem versicherte, dass man sich freuen würde, wenn man dies bei Gelegenheit wiederholen würde. In der Zwischenzeit wurde man vom Zugpersonal allenfalls behelligt, wenn es galt, die Fahrkarte zu kontrollieren.
Die Zeiten, da die Bahn ihren Kunden zumutete, Fragen wie die nach dem nächsten Halt oder dem Standort des Speisewagens selbst zu klären, sind indes lange vorbei. Der Fahrgast von heute wird wie ein launisches, verzogenes, hilfloses Kind behandelt, das beleidigt ist und nie wieder mit dem Zug fährt, wenn es nicht permanent durch übertrieben unterwürfige Durchsagen, Süßigkeiten und kleine Geschenke bei Laune gehalten wird.
Was die Durchsagen angeht, so drängt sich der Eindruck auf, dass die Bahn hier nach Kompensation sucht. Wenn schon die Klimaanlagen nicht richtig funktionieren, die Züge ständig verspätet sind und das "gastronomische Angebot" mit seinen astronomischen Preisen oft nicht hält, was es verspricht, weil zum Beispiel der Kaffeeautomat kaputt ist, dann soll sich der Kunde wenigstens nicht uninformiert fühlen.
Kaum hat es sich der Reisende bequem gemacht, bekommt er die obligatorische Begrüßungsfloskel zu hören, welche nach jedem Halt wiederholt wird und in etwa so lautet:
Meine Damen und Herren, wir freuen uns, die neu zugestiegen Fahrgäste (was unterscheidet eigentlich neu zugestiegene von zugestiegenen Fahrgästen?) im ICE von A nach B begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Heinz-Maria Laberkasten, und ich und mein Team stehen ihnen jederzeit gerne zur Verfügung. Ihre nächsten Reisemöglichkeiten und die Anschlusszüge entnehmen sie bitte dem ausliegenden Faltblatt. Nächster Halt ist Schwafelstadt.
Es folgt eine etwas kürzere Durchsage in Englisch; in Zügen, welche von oder nach Holland verkehren, kommt noch eine weitere Botschaft auf Niederländisch.
Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, wie es die Schweizerischen Bundesbahnen mit ihren Durchsagen halten. Immerhin gibt es in der Schweiz vier offizielle Sprachen, zusammen mit Englisch wären das dann Durchsagen in fünf Sprachen. Aber die Schweiz ist ein kleines Land, und jeder Zug hätte die Endstation erreicht, bevor alle Durchsagen gemacht worden wären. Oder man müsste Schritttempo fahren, um genügend Zeit für alle Durchsagen zu haben.
Bei der Lautstärke ist die Bahn nicht kleinlich. Schließlich muss sicher gestellt sein, dass die Durchsagen auch dann zu hören sind, wenn der Sitznachbar gerade seine Tuba oder seinen neuen Presslufthammer ausprobiert. Auch würde bei zu geringer Lautstärke die Gefahr bestehen, dass sich einzelne Fahrgäste einfach weiter unterhalten, anstatt jegliches Gespräch notgedrungen sofort zu unterbrechen und mit der gehörigen Aufmerksamkeit den Ausführungen des Personals zu lauschen. Eben deshalb gibt es für die Betroffenen auch keine Möglichkeit, auf die Lautstärke Einfluss zu nehmen. In manchen Abteilen sind noch Drehschalter angebracht, welche mit einem symbolischen Lautsprecher versehen sind und eine Handlungsfreiheit vortäuschen, die es nicht gibt, denn jegliches Drehen in beide Richtungen hat nicht den geringsten Effekt.
Hin und wieder wird dann noch ein paar Minuten gewartet, bis sich die Unerfahrenen unter den Fahrgästen so richtig in ihr Buch vertieft haben oder gerade eingenickt sind, um sie mit einer Durchsage das "gastronomische Angebot" betreffend aufzuschrecken: "Meine Damen und Herren, ich möchte Sie noch auf unseren gastronomischen Service aufmerksam machen. Im Wagen 10 finden Sie unser Bordrestaurant." An dieser Stelle frage ich mich regelmäßig, ob es Fahrgäste gibt, die jetzt überrascht ausrufen: "Boah, der Zug hat ja im Wagen 10 ein Bordrestaurant. Das hätte ich nicht gedacht! Da könnte ich ja vielleicht etwas essen." Indessen muss man nicht unbedingt deshalb seinen Platz verlassen, denn: "Auf Wunsch bringen wir Ihnen Speisen und Getränke in der ersten Klasse auch gerne an den Platz." Häufig folgt dann noch eine als "Empfehlung" bezeichnete Anpreisung eines Postens aus der Speisekarte.
Diese "gastronomische" Durchsage überbrückt die wenigen Minuten, die noch übrig bleiben, bis es Zeit wird, den Reisenden auf den nächsten Halt vorzubereiten: "Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Schwafelstadt Hauptbahnhof. Sie haben folgende Anschlussmöglichkeiten..." Es folgt in epischer Breite eine Auflistung genau derselben Anschlusszüge, die auch im "ausliegenden Faltblatt" gelistet sind. Wer sich größeren Verkehrsknotenpunkten wie Köln oder Frankfurt nähert, wird schwer beeindruckt sein von den zahlreichen Möglichkeiten, die sich dem möglicherweise noch unentschlossenen Fahrgast bieten. Aber aufgepasst! Niemand möge sich vertrauensselig auf die Gültigkeit der dargebotenen Litanei verlassen: "Achten Sie bitte auch auf die Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig!" Die Durchsage endet mit den versöhnlichen Worten: "Nächster Halt ist Schwafelstadt. Ausstieg in Fahrtrichtung links (Wie viele Fahrgäste sich jetzt wohl erleichtert den Schweiß von der Stirn wischen werden: "Gut, dass ich jetzt weiß, wo ich aussteigen muss! Das hätte ich alleine nie rausgefunden."). Wir verabschieden uns von den Fahrgästen, die in Schwafelstadt aus- und umsteigen (hier stellt sich die Frage, warum es nicht reicht, sich von den Fahrgästen zu verabschieden, die in Schwafelstadt aus dem Zug aussteigen) und würden uns freuen, sie bald wieder begrüßen zu dürfen." Dann nochmal etwas Englisch ("thank you for travelling with Deutsche Bahn and Good-Bye!") und gegebenenfalls Niederländisch. Wobei unerklärlicherweise die Fremdsprachenversionen der Durchsage auf das Aufsagen all der Anschlusszüge verzichten.
"Meine Damen und Herren, der Zug ist zum Halten gekommen."
Soweit der Normalfall, so weit man es heutzutage noch als normal bezeichnen kann, dass ein Zug pünktlich ist. Verspätungen werden natürlich durchsagetechnisch besonders behandelt. Hat der Reisende unter Zuhilfenahme seiner Armbanduhr und des ausliegenden Faltblattes festgestellt, dass der Zug, in dem er den erbarmungslosen Durchsagen ausgeliefert ist, etwa zehn Minuten Verspätung hat, so wird die Bestätigung nicht lange auf sich warten lassen:
Meine Damen und Herren, unser (!) Zug hat auf Grund von ... eine Verspätung von etwa zehn Minuten. Über die Anschlussmöglichkeiten in Schwafelstadt werden wir Sie rechtzeitig informieren.
Und das passiert auch: "Meine Damen und Herren, ich informiere Sie jetzt über die Anschlussmöglichkeiten in Schwafelstadt." Alsdann wird wieder die Litanei der Anschlusszüge gesungen, allerdings mit Modifikationen:
Der Zug nach Rhabarberhausen kann leider nicht warten (warum eigentlich nicht?). Nächste Fahrmöglichkeit nach Rhabarberhausen ist ...
Mit Begrüßungen, Verabschiedungen, Hinweisen auf Anschlusszüge und das "gastronomische Angebot" ist das Spektrum der Durchsagen aber noch nicht vollständig beschrieben. Mittlerweile wird der Fahrgast auch auf die banalsten Ereignisse hingewiesen:
Meine Damen und Herren, der Zug ist zum Halten gekommen. In Kürze werden wir unsere Fahrt fortsetzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ob es höflich ist, sich für die Aufmerksamkeit zu bedanken, die man selber brutal erzwungen hat, mag dahingestellt sein. Dass ein Zug auf freier Strecke zum Halten gekommen ist, würde ohnehin wohl nur dem entgehen, der gestorben ist, tief schläft oder in ein fesselndes Buch versunken ist. Die beiden letzteren Möglichkeiten scheiden auf Grund der hohen Durchsagefrequenz aus. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis weitere Durchsagen eingeführt werden:
Meine Damen und Herren, der Zug ist in eine Kurve eingefahren. In Kürze geht es wieder geradeaus weiter. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, der Zug ist in einen Tunnel eingefahren. In Kürze werden wir diesen Tunnel wieder verlassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, der Zug fährt über eine Brücke. In Kürze werden wir wieder festen Boden unter den Schwellen haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Bahn hat in den letzten Jahren zielgerichtet darauf hingearbeitet, dass die Zeiträume zwischen den Durchsagen immer kürzer werden. Trotzdem könnten theoretisch immer noch auf einzelnen Streckenabschnitten mit weit auseinander liegenden Bahnhöfen fünfzehn und mehr Minuten ins Land gehen, ohne dass die Fahrgäste belästigt würden. Deshalb ist in solchen Fällen das Zugpersonal angewiesen, die bedrückend langen Schweigephasen durch kurzweilige Unterbrechungen zu beleben. Da werden dieselben kostenlosen Tageszeitungen, die kaum übersehbar in Eingangsnähe in Fächern bereitliegen, auch demjenigen angeboten, der gerade kaum übersehbar eine Tageszeitung liest. Oder dem Reisenden wird ein Tablett mit Süßigkeiten in Kleinstpackungen unter die Nase gehalten, eine nette Geste gerade bei Familien mit kleinen Kindern, die nicht ständig naschen sollen. Dass jedes kleine Schokoladentäfelchen einzeln verpackt ist, scheint die Bahn nicht zu stören, obwohl sie im Internet den Mund ziemlich voll nimmt: "Klimaschutz und sparsamer Umgang mit Ressourcen sind fester Bestandteil des Geschäftsmodells." Manchmal holt man sich auch externe Unterstützung durch fahrende Eis- und Brezelverkäufer, die lautstark ihre Waren feilbieten.
Es ist absehbar, dass sich die Schere schließen wird. Auf der einen Seite werden Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut, die Fahrzeiten drastisch verkürzt. Auf der anderen Seite nehmen die Zahl und die Dauer der Durchsagen zu. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu der permanenten Durchsage kommen wird. Die permanente Durchsage wird eine Stimme sein, die ununterbrochen erklingen und Begrüßungen, Verabschiedungen, Hinweise und nützliche Informationen zum Besten geben wird. Falls dann noch einige Sekunden übrig bleiben sollten, werden sie für Werbespots vermarktet.
Werbung, die ihre Zielgruppe punktgenau erreicht, wird sicher gerne angenommen. Ich denke dabei ins Besondere an die Firma Ohropax.
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