Hier der Artikel von Rudolf Maresch:
Warum das Vertrauen in die Intelligenz der Vielen ein frommer Wunsch bleiben wird.
Dem 19. Jahrhundert galt die "Masse" als "soziale Verfallsform". Der Philosoph Hegel hielt sie für "formlos", die Junghegelianer verachteten sie. Bruno Bauer erblickte in ihr "den Verfall der Gattung in die Menge einzelner Atome". Nur Karl Marx hielt große Stücke auf sie. Er wollte ihr "Klassenbewusstsein" einimpfen und die Massen zur Revolution animieren.
Diese Hoffnungen hegt in liberalen Gesellschaften niemand mehr. Selbst die extreme Linke hat mittlerweile davon Abstand genommen. Auch für sie ist die Masse kein "Subjekt" mehr, das qua Aktion sich selbst und alle anderen aufheben könnte. Weder hat sie dafür eine eigene Sprache, noch gibt es jemand, der in ihrem Namen sprechen könnte.
Diffuser Schwamm
Wer aktuell von "Masse" spricht, der hat daher meist etwas "Amorphes" "Diffuses" oder "Schwammiges" vor Augen. Masse ist ohne jede "Qualität" oder gar "Polarität", sie repräsentiert nichts, sie bezieht sich auf nichts, außer auf sich selbst. Auf sie kann sich, wie einst auf die "Nation", das "Volk" oder die "Klasse", niemand mehr berufen. Für den Soziologen oder sozial Bewegten funktioniert sie allenfalls wie eine "verworrene Idee", deren Sinn zwar diffus, aber weiterhin im Gebrauch bleibt.
Es war Jean Baudrillard, der vor mehr als dreißig Jahren genau in diesem "Mana" ihre neue Widerständigkeit entdecken wollte. Was die Masse gegenüber dem Sozialen, das sie mal reflektieren sollte, auszeichne, sei ihre "Trägheit" und Macht, einfach zu schweigen. Die Schwelle der "kritischen Masse", an der ihr Schweigen selbsttragend werde, sei erreicht. Mit "skandalöser Beharrlichkeit" widerstünde sie "dem Imperativ zur rationalen Kommunikation". Darum bleibe auch jeder geschichtliche Aufruf, gegen soziale oder politische Unzumutbarkeiten aufzubegehren, ohne Echo.
Zwar versuche mittlerweile ein Heer von Meinungsforschern, die Massen zum Sprechen zu bringen. Längst sind sie für diese Art von Leuten zu einer Art "Kristallkugel" geworden, aus der sie Stimmungen, Überzeugungen und Standpunkte herauslesen wollen. Überall werden sie seitdem penibel sondiert, getestet, befragt und ausgehört. Gleichzeitig werden sie aber auch auf Millionen von Webseiten zum Mitmachen bewegt, zum Kommentieren und Empfehlen, zum Abstimmen oder Versenden. Doch statt die Masse zu mobilisieren, werde dadurch nur noch mehr Masse produziert, diesmal an Information, die das soziale Feld neutralisieren, den Sinn töten und das Politische im Keim ersticken.
Smarte Masse
Umso bemerkenswerter ist, dass die "Masse" im Zuge kollaborativer Einrichtungen, wie Wikipedia oder das Mitmach-Web sie für den geneigten User bereithalten, zu neuem Ansehen und Einfluss gekommen ist.
"Irgendwann zwischen 2000 und 2005", will der Frankfurter Soziologe Manfred Faßler wissen, sind "die idiotischen Massen zu smarten Mengen" geworden. Unter dem Eindruck des "Gesetzes der großen Zahl" hätten sich "die vernetzten, instantan 'verständigen Vielen' zu einer Quelle von Intelligenz, Wissen, Produktinnovation gemausert". In diesen "global vernetzten Mensch-Informations-Programmen" werde das "Ende der Gesellschaftszeit" eingeleitet. Statt Solidarität, Achtung und Vertrauen an Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen zu adressieren, werden wir sie bald an "Zufalls- und Informationsgemeinschaften" weiterreichen.
Auch wenn uns die ebenso grausame wie hochfliegende Rhetorik nicht recht zu überzeugen vermag, und wir auch von den "entwerfenden Eingriffen", die der Soziologe "in die Gesellschaft" plant, insgesamt wenig halten, stellen wir in der Tat eine wachsende Neigung der Menschen zu "programmierter Komplizenschaft" fest. Auf unzähligen Webseiten und Portalen wird der User ständig zu Urteilen, Bewertungen oder Stellungnahmen angehalten.
Offenbar sind deren Betreiber davon überzeugt, dass die Vielen "kluge Entscheidungen" treffen und auch zu sozialer Kooperation fähig sind. Jimmy Wales, Gründer des Wissensportals Wikipedia, ist beispielsweise davon überzeugt, dass sein Vorhaben, eine Enzyklopädie mithilfe zigtausend anonymer Freiwilliger schreiben zu lassen, dem Wahren, Guten und Schönen dient (Wir glauben an das Gute).
Stricken auch nur einige hundert ausgewählte Autoren am Lexikon der Welt, rein theoretisch kann dort jeder Nutzer einen Artikel beisteuern oder dessen Inhalt verändern. Dank der gegenseitigen Kontrolle aller Mitwirkenden glaubt und hofft der "Wikipedianer", Missbrauch oder die Verbreitung falscher Informationen auszuschließen. So ist durch die Kooperation der Vielen eine "kollektive Intelligenz" entstanden, die angeblich um ein Vielfaches größer und klüger ist als die Summe der daran arbeitenden Individuen.
Dummheit der größten Zahl
Ob jedoch das "Gesetz der größeren Zahl", unser Wissen und unsere Entscheidungsprozesse wirklich nachhaltig verbessert, steht in den Sternen. Selbstverständlich ist es nützlich und zeitsparend, wenn man vom Schreibtisch aus in Bruchteilen von Sekunden mal rasch einen Begriff nachschauen kann oder erklärt bekommt. Zu tieferem Wissen oder weitreichenden Einsichten reicht es meist aber nicht aus. Das hindert Zigmillionen von Usern aber nicht daran, ihren Artikeln einen scheinbar objektiven oder gar "pseudoheiligen" Charakter zuzusprechen. Für eine nicht unerhebliche Anzahl ist Wikipedia längst zu einer Art "Bibel" geworden, die bei fetzigen Debatten und hitzigen Diskussionen meist, wenn Argumente ausgehen, zum obersten Schiedsrichterspruch avanciert – auch auf diesem Portal.
Und selbstverständlich kann es mitunter nützlich sein, sich Kundenbewertungen bei einschlägigen Adressen oder Portalen anzusehen, bevor man ein Hotel oder eine Reise bucht, einen Film ansieht, eine CD downloadet oder einen Gebrauchtwagen erwirbt. Doch auch diese Urteile und Bewertungen bieten letztlich keine echte Gewähr, ob der Film später auch den Ansprüchen des Users genügt oder der Urlaub ihm dort gefallen wird, er mit den abgerufenen Songs glücklich wird oder das Auto im nächsten Moment nicht am Straßenrand liegen bleibt.
Mehr Einzelne statt Massen
Eine "Weisheit der Masse", wie sie dem US-amerikanischen James Surowiecki vorschwebt Klüger als der klügste Kopf), gibt es bei Lichte betrachtet nur in Büchern oder Modellen. Massen können ebenso grottenschlechte Urteile oder folgenschwere Fehlentscheidungen treffen wie jeder Einzelne. Durchschnitte, Stichproben oder Wertungen von Kunden spiegeln im Grunde nur den Mainstream. Sie geben an, was gerade en vogue und populär ist. Über die Ausnahme, die allen Normierungen trotzt oder widersteht, und die häufig die interessanteren Einsichten, Lösungen und Erlebnisse vermittelt, erfährt der User hingegen nichts.
Massen folgen eher dem Gewohnten und Vertrauten als dem Fremden und Unbekannten. Darum sind Neuerungen auch meist von Solitären geleistet worden, von Namen und Adressen, die ihr Augenmerk auf das Besondere, das Singuläre oder die Ausnahme gerichtet haben. Ohne die Distanz zur Masse, Mehrheit oder den Vielen, wären weder Nietzsche noch Rimbaud oder Duchamps denkbar. Sie und viele andere Einzelne waren es, die die Welt mit anderen Perspektiven, Werten oder Einsichten vertraut gemacht haben. Dass vor allem sie die Masse verachtet und verspottet und sie für dumm und gefährlich gehalten haben, verwundert daher nicht.
Nur Massen sind für die Verbreitung von Memen anfällig. Das ist auch einer der Gründe, warum ausgerechnet sie lemmingartig bestimmten Moden, Stilen und Trends folgen. Ohne deren Empfänglichkeit dafür wären Hysterien wie die um die Schweinegrippe, das Tief "Daisy" oder den Klimawandel, hohe Verkaufszahlen wie die der äußerst biederen Harry-Potter-Bände, Zweifel an der Wirkung der Steuersenkungspläne der Regierung oder der Crash an den Börsen gar nicht möglich.
Herdentrieb
Bereits diese Beispiele zeigen, dass der Entwicklung "kollektiver Weisheit" enge Grenzen gesetzt sind. Auch sie schützt nicht vor dem so genannten "Mitläufereffekt", wonach die Bereitschaft von Kunden, Wählern oder Bürgern Produkte zu kaufen, Parteien zu wählen oder sich sozialen Bewegungen anzuschließen, wächst, wenn damit das Ansehen steigt oder Sieg und Erfolg wahrscheinlicher werden. Zumal in solch angeblich gleichberechtigten Gruppen, Netzwerken oder Gemeinschaften auch nicht jeder die gleiche Macht oder den gleichen Einfluss hat.
Mittlerweile weiß auch die moderne "Managementlehre", dass Veränderungen in Organisationen meist von starken Führungspersönlichkeiten ausgehen. Um den "Tipping-Point" herbeizuführen, der dem Ganzen eine abrupte Wendung gibt und Strategien neu ausrichtet, braucht es eher das "Gesetz der Wenigen". Warum das bei Schwarmintelligenzen anders sein soll, ist nicht leicht einzusehen. Es grenzt an Wortklauberei, wenn Manfred Faßler die "Idiotie der Masse in eine Intelligenz der Menge" umdefiniert.
Angesichts der Millionen von Wikis, Blogs und Creative Commons, die allein in den letzten beiden Jahren wie Pilze aus dem Netz geschossen sind, aber auch angesichts der Text- und Bilderflut, die sich Tag für Tag über die User ergießt, fehlt es uns weniger an Masse oder Menge (Weniger ist Mehr), sondern vielmehr an virtuellen Leuchttürmen, die Qualitäten vermitteln und dem User Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit signalisieren.
Literatur:
Jean Baudrillard, Im Schatten der schweigenden Mehrheiten oder das Ende des Sozialen, Berlin: Matthes & Seitz in Berlin 2010, 160 Seiten, 14,80 Euro
Manfred Faßler, Nach der Gesellschaft. Infogene Welten - anthropologische Zukünfte, München: Fink Verlag 2009, 308 Seiten, 32,90 Euro
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