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„Im Kern geht es um das linksliberale Selbstwertgefühl“
Hinter der Sarrazin-Debatte steht aber etwas ganz anderes: Im Kern geht es um das Selbstwertgefühl der linksliberalen Minderheit der Bevölkerung, die lange an die Idee der multikulturellen Gesellschaft geglaubt hat. Sie steht, wenn man die Probleme des Landes mit seinen Muslimen ernst nimmt, vor den Trümmern ihres Weltbildes, das sie gegen einen informierten Kritiker verteidigt.
Kepplinger
von Oliver Maksan
Der Mainzer Medienforscher Hans Mathias Kepplinger über die Medien und den Fall Sarrazin.
Herr Professor Kepplinger, zeigt die Debatte um Thilo Sarrazin in den Medien einerseits und der Verkaufserfolg seines Buches andererseits, wie öffentliche und veröffentlichte Meinung auseinanderklaffen?
Das zeigt sie mit Sicherheit. Ein Grund besteht darin, dass die Mehrheit der Journalisten in den meinungsbildenden Medien eher der politischen Linken zuneigen, während die Mehrheit in der Bevölkerung im Vergleich dazu eher rechts davon steht, mit der Konsequenz, dass die meinungsbildenden Medien vor allem kontroverse Themen nicht so darstellen, wie die Bevölkerung sie sieht. Ein Paradebeispiel dafür ist eben die Berichterstattung über Ausländer. Die ist ausländerfreundlicher als die Meinung der Bevölkerung.
Aber warum spiegelt sich deren Meinung nicht in den Blättern wider? Die wollen ja auch verkaufen.
Weil das Publikum, das – wir sprechen von den meinungsgebenden Leitmedien – diese Blätter kauft, auch eher linksliberal ist. Die gebildete Oberschicht ist eben eher linksliberal als rechtskonservativ. Und deshalb sind die meisten dieser Blätter – Zeit, Süddeutsche, Spiegel –, eher im moderaten linken Spektrum platziert. Es gibt nur relativ wenige konservative Gegengewichte wie die Welt oder den Focus oder vielleicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung, zumindest in ihrem Politikteil. Ihr Feuilleton tickt ja auch anders. Das ist die Konsequenz eines Machtgeschehens, das man nicht nur den Journalisten anlasten darf, sondern es ist eine Konsequenz der Präferenz der Leser, Hörer und Zuschauer.
Das heißt, im Grunde bestimmt eine wechselseitige Symbiose von Meinungsmachern und höheren sozialen Schichten den öffentlichen Diskurs?Im Grunde ja. Das wäre aber bei anderen weltanschaulichen Mehrheitsverhältnissen in diesem Segment nicht anders.
Ändert sich das nicht grundlegend mit dem Internet, wo jeder ungefiltert seine Meinung posten kann? Dort türmen sich die zustimmenden Kommentare zu Sarrazin.
Es ist zumindest der Ansatz dazu. Meines Erachtens wird die Rolle des Internets bezüglich der Meinungsbildung aber überschätzt. Keine Bevölkerungsgruppe nutzt das Internet so intensiv wie die höher Gebildeten und wie innerhalb der Gruppe der höher Gebildeten die Journalisten. Dieses Segment der Bevölkerung ist wie gesagt eher linksliberal gestimmt und war bisher nicht gewohnt, soviel direkte negative Reaktionen zu erkennen. Diese Reaktion hat es immer gegeben, aber sie war nicht sichtbar. Jetzt ist diese Reaktion sichtbar zumindest für diesen kleinen Teil der Bevölkerung. Und das ist ein neues Erlebnis. Allerdings muss man wiederum einschränkend sagen: Wir reden hier über fünf oder zehn Prozent der Bevölkerung. Neunzig Prozent der Bevölkerung interessiert sich überhaupt nicht für diese Art von Kommunikation im Internet.
Sarrazin hat ja nun nicht ohne Polemik in das Wespennest Ausländerintegration gestochen. Ist der Tabubruch mittlerweile die einzige Möglichkeit, sich im Mainstream Gehör zu verschaffen?
Ja. In einer Gesellschaft, in der das Angebot an Informationen dramatisch zunimmt, sinkt natürlich die Chance, mit gemäßigten Positionen Aufmerksamkeit zu finden. Das heißt, die Notwendigkeit zu dramatischen Zuspitzungen wird immer größer.
... denen dann die Hysterisierung folgt. Gezielte Tabubrüche und Skandalisierung sind demnach also notwendigerweise zwei Seiten derselben Medaille?
Ja. Die Anzahl von Skandalisierungen von, wenn wir ehrlich sind, Lappalien, nimmt seit etwa 10, 15 Jahren dramatisch zu. Das ist Teil dieser Bewegung. Je größer der Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist, weil das Angebot immer größer wird, desto mehr müssen diejenigen, die da vorne mitspielen wollen, zu besonders kräftigen Farben und lauten Tönen greifen.
Das heißt, wir können uns von seriöser Auseinandersetzung und echter Debattenkultur in Fragen gesamtgesellschaftlicher Relevanz verabschieden?
Die hat es nie gegeben. Es ist eine Illusion zu meinen, dass die Mehrheit der Bevölkerung an diesen Debatten auf eine intellektuell einigermaßen akzeptable Weise teilnimmt. Es war immer eine Debatte innerhalb einer Minderheit von von zehn bis zwanzig Prozent, 25 Prozent. Die Mehrheit hat das immer nur stauend oder desinteressiert beobachtet. Der Unterschied zu früher ist allerdings, dass es innerhalb der debattierenden Minderheit immer schwieriger wird, eine rationale Diskussion zu führen, weil die Diskussionen durch Zuspitzungen sofort ins Extrem getrieben werden.
Würden Sie sagen, dass in den letzten Jahren die Zahl sozialer Tabus zugenommen hat?
Das ist schwer zu sagen, abgenommen hat sie vermutlich nicht. Es ist eine Illusion zu glauben, wir würden in einer tabulosen Gesellschaft leben. Das ist nicht der Fall. Das zeigt ja die Debatte um die Sarrazin-Thesen. Es gibt Tabus, und wer diese Tabus verletzt, erntet Sturm. Hinter der Sarrazin-Debatte steht aber etwas ganz anderes: Im Kern geht es um das Selbstwertgefühl der linksliberalen Minderheit der Bevölkerung, die lange an die Idee der multikulturellen Gesellschaft geglaubt hat. Sie steht, wenn man die Probleme des Landes mit seinen Muslimen ernst nimmt, vor den Trümmern ihres Weltbildes, das sie gegen einen informierten Kritiker verteidigt. Der eher konservative Teil der Gesellschaft findet indes zunehmend, dass die Meinungsfreiheit in unserem Land de facto beschnitten würde: Martin Hohmann, Eva Herman, die Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche.
Täuscht diese Wahrnehmung?
Wir sind tatsächlich nicht in der Lage, bestimmte Sachfragen in der Öffentlichkeit mit Distanz und Gelassenheit zu diskutieren. Wir gehen sofort dazu über, Personen mundtot zu machen, die nicht konsensfähige Fakten präsentieren oder Meinungen äußern. Das steht im eklatanten Widerspruch zu dem Grundprinzip einer liberalen Demokratie.
Was kann man dagegen tun?
Indem man darauf besteht, dass über die Fakten diskutiert wird. Sarrazin drängt zurecht darauf. Und man muss sich gegen die vielen Kommentatoren wehren, die permanent versuchen, von den Fakten abzulenken, indem sie Sarrazin eine defekte Persönlichkeit zuschreiben, negative Motive unterstellen oder einen hochbelasteten ideologischen Hintergrund konstruieren. Das sind Strategien, um die Diskussion über die Fakten abzuwürgen.
Hat die Sarrazin-Debatte das Zeug dazu, das Meinungsspektrum im Lande zu erweitern?
Auf jeden Fall. Sarrazin hat eine Mauer eingerissen. Das ist der Grund, weshalb die Empörung so hoch schlägt. Deshalb wird versucht, mit sachlich und moralisch fragwürdigen Mitteln gegen die Person Sarrazin Simmung zu machen, damit man nicht über die von ihm präsentierten Fakten reden muss. Er wird persönlich schwer beschädigt aus der Sache herausgehen; aber sein Anliegen wird aus der Öffentlichkeit nicht mehr verschwinden.
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