Chancengleichheit und Egalitarismus nehmen für Konservative keinen besonderen Stellenwert ein. Für waschechte Neoliberale – die sich im politischen Spektrum eher bei den Libertären, als bei den Liberalen verorten lassen – spielen solche Begriffe keine Rolle. Die Freiheit ist das Maß aller Dinge, der Staat hat sich nur um die Sicherung der individuellen Freiheit zu kümmern und den Rest erledigt der Markt. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und wer eine schlechtere Ausgangsposition hat, der hat nun einmal Pech. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof.
Die gute alte Zeit
Mehr als ein Vierteljahrhundert später hat erneut eine schwarz-gelbe Koalition die Regierungsgeschäfte übernommen. Heute spricht niemand mehr von einer „geistig-moralischen Wende“. Konservative Werte sind allenfalls noch in den Köpfen einiger „ewig gestriger“ Unionspolitiker vorhanden. Eine Rückkehr in die „guten alten Zeiten“ der 50er und 60er will heute niemand mehr. Wenn man heute öffentlich von den „guten alten Zeiten“ und den „guten alten Werten“ spricht, so spukt in den meisten Köpfen – abhängig vom Lebensalter und von der Herkunft – das Bild von einer Zeit, in der Chancengleichheit und soziale Mobilität noch mehr waren als bloße Phrasen. Von einer Zeit, in der man den Begriff Zukunft noch mit Hoffnung und nicht mit Angst verband. Von einer Zeit, in der man fest davon überzeugt war, dass der eigene Nachwuchs gute Chancen hat, sich ein eigenes Leben aufzubauen, das nach sozio-ökonomischen Standards besser ist als das eigene Leben. In diesen Zeiten sorgte der Staat noch dafür, dass die individuellen Freiheiten aller Bürger in einem hohen Maße gewahrt blieben. Eine Rückkehr in diese Zeit wollen paradoxerweise genau diejenigen nicht, die sich die Maximierung der individuellen Freiheiten auf ihre Fahnen geschrieben haben. Denn nun zeigt sich, was zu Zeiten der „Lambsdorff-Papiere“ vielen Beobachtern noch nicht klar war – den Neoliberalen und den Libertären sind die Freiheiten der Masse egal, es geht ihnen letztendlich nur um die ökonomischen Freiheiten einiger Weniger.
Auch wenn die Politiker dies nicht so sagen wollen – Deutschland steht im Jahre 2009 vor einer echten „geistig-moralischen Wende“. Der pervertierte Liberalismus der „Lambsdorff-Papiere“ soll nun auch nach den Vorstellungen der Meinungsbildner auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgeweitet werden. Er soll zu einer echten Ideologie werden. Im Fadenkreuz dieser Ideologie steht dabei vor allem der Sozialstaat. Den Leistungsträgern Geld zu nehmen, um es – bedingungslos – Leistungsempfängern zu geben, ist für überzeugte Neoliberale eine Todsünde. Wer Leistungen empfängt, wird schließlich auch noch dafür belohnt, dass er nicht versucht, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Rampensäue an die Front
Diese radikale Position ist innerhalb der Regierungsparteien allerdings keinesfalls Common Sense. Vor allem in der Union gibt es noch viele Anhänger eines ganz anderen Staatsverständnisses. Von daher ist es auch nicht die politische Elite selbst, die zur geistig-moralischen Wende ruft. Dafür gibt es schließlich die altbewährten Kettenhunde und Rampensäue. Kaum hat Schwarz-Gelb an den Futtertrögen der Macht Platz genommen, wagen sich die neoliberalen Lautsprecher wieder aus ihrer Deckung und plärren lauter und schriller denn je. Aktuell haben sie sich den Nebenkriegsschauplatz des Betreuungsgeldes ausgesucht, um ihre geistig-moralische Wende voranzutreiben. Ob diese Wahl so klug ist, wird sich zeigen. Schließlich stören sich die echten Konservativen bereits an den plärrenden Dissonanzen im gemeinsamen Konzert.
Mütter an den Herd
Das Betreuungsgeld, so heißt es stets, sei eine Herzensangelegenheit der bayerischen Christsozialen. Das verwundert kaum, schließlich treffen hier gleich mehrere Rahmenbedingungen zusammen, die ein Betreuungsgeld für die CSU schmackhaft erscheinen lassen. Mit dem Betreuungsgeld sollen – so die Theorie – auch Eltern eine staatliche Anerkennung erhalten, die ihre Kinder nicht in eine Krippe oder einen Kindergarten schicken. Von diesen Eltern gibt es in Bayern viele – die meisten davon nicht aus Überzeugung, sondern aus der Not heraus. Schließlich gibt es in fast keinem Bundesland für jüngere Kinder so wenige Hortplätze wie in Bayern. Hier rächt sich die christlich-konservative Ideologie der Bajuwaren – Kleinkinder in einen Hort zu geben, ist für viele CSU-Politiker noch heute eine sozialistische Unart, die dem eigenen Ideal von der bürgerlichen Kleinfamilie mit dem männlichen Versorger und der weiblichen Kraft am heimischen Herd widerspricht. Um einen Rechtsanspruch auf einen Hort- oder Kindergartenplatz durchsetzen, müssten die Bayern daher tief in die chronisch leeren Freistaatskassen greifen. Da ist es billiger, den Eltern einen kleinen Obolus auszuzahlen – zumal, wenn das Geld dafür aus Berlin kommt.
Der hässliche Berliner
Kaum war das Betreuungsgeld im Koalitionsvertrag verankert, schon meldeten sich die üblichen Verdächtigen zu Wort. Der Berliner Stadtteilbürgermeister Buschkowsky zum Beispiel, der zusammen mit seinem Berliner Parteifreund Thilo Sarrazin nicht nur ein konstupides Duo bildet, sondern auch ein feines Gespür dafür hat, wann es opportun erscheint, endlich wieder das herauszupöbeln, was offensichtlich so viele Kleinbürger denken – der Prolet versäuft das schöne Betreuungsgeld doch sowieso nur und der Türke als solcher überweist das Geld nach Anatolien. Auch dies ist eine geistig-moralische Wende. Vor Schily und Schäuble galt ein Bürger als unschuldig, heute gilt er als verdächtig. Früher galt ein Angehöriger der Unterschicht als verantwortungsvolles Individuum, heute gilt er als verantwortungsloser Säufer, der selbst dem eigenen Nachwuchs das Geld aus der Spardose stibitzt, um sich damit zu besaufen. O tempora o mores – gab es früher wirklich weniger Unterschichtler mit Alkoholproblemen? Sicher, aber dies ist kein Grund, eine ganze Schicht wegen einiger schwarzer Schafe zu stigmatisieren.
Warum der Staat überhaupt Geld an Familien zahlen soll, die ihren Nachwuchs nicht in einen Kindergarten bringen, ist ohnehin nicht ersichtlich. Kriegt bald auch der Rekonvaleszente einen geldwerten Bonus vom Staat, wenn er sich von den Folgen einer Operation nicht auf Kosten der Allgemeinheit in einem Krankenhaus erholt, sondern in seinem heimischen Bettchen? Vor allem Buschkowskys Proleten, die es sicherlich gibt, werden ihr Kind doch nicht in einen Kindergarten schicken, wenn es alternativ 150 Euro vom Staat gibt. Wem ist damit geholfen? Den „ordentlichen“ Familien, da sie nun schon im Kindergarten eine aseptisch wirkende Welt vorfinden werden – frei von proletarischem oder gar subproletarischem Ballast, da der auf die 150 Euro angewiesen ist und im Zweifel am Wohl seiner Kinder spart.
Kein Geld für Bier und Kippen!
Besser, aber deshalb noch lange nicht gut, ist die Idee, das Betreuungsgeld in Form eines Gutscheins auszustellen, der nur für Waren eingelöst werden kann, die dem Kind nutzen. Letztendlich ist dies aber genauso durchdacht, wie der hehre Wunsch einer Großmutter, die ihrem heranwachsenden Enkel zwanzig Euro zusteckt, ihn aber ermahnt, dieses Geld nicht für Zigaretten oder Alkohol auszugeben. Dann bezahlt er seine Kippen und sein Bier halt mit einem anderen Zwanziger und nimmt diesen Schein für andere Ausgaben – solche ausgabegebundenen Empfehlungen erreichen eigentlich nie das, was sie bezwecken.
Richtig schlimm wird es allerdings dann, wenn Politiker offen darüber nachdenken, nur an Hartz IV-Empfänger solche Gutscheine auszugeben, wie es unlängst die Regentin höchstpersönlich vordachte. Der Dank aller Hilfsbedürftigen, die sich von nun an auch im Supermarkt oder in der Kinder-Boutique als soziale Parias outen müssen, ist ihr gewiss. Wann kommt eigentlich das aufnähbare und immer gut sichtbar zu tragende Abzeichen, das „Asoziale“ als solche ausweist? Dann wüsste jede Kassiererin sofort, dass sie dem vor ihr stehenden Unterschichtler weder Tabak noch Zigaretten verkaufen darf.
Auch die neoliberalen Kettenhunde lehnen – genau wie ihr politischer Flügel, die FDP, – das Betreuungsgeld grundsätzlich ab. Jede staatliche Transferleistung ohne Gegenleistung ist ihnen schließlich zuwider. Für die Unterschicht, die SPIEGEL-Enfant terrible Gabor Steingart als „neue Proleten“ bezeichnet, die den halben Tag fernsähen, zu viel tränken und rauchten und zu viele Kinder hätten, haben die Neoliberalen freilich nicht viel übrig, schließlich geht ein gehöriger Teil der ärgerlichen Steuern, mit denen Leistungsträger stets demotiviert werden, an eben diese ökonomisch nutzlose Schicht. Steingarts Bruder im Geiste ist der Gesellschaftsforscher und INSM-Vordenker Meinhard Miegel. Für ihn sind es die anonymen Banktransfers von Sozialleistungen und die angeblich fehlende soziale Kontrolle, die dafür verantwortlich sind, dass es überhaupt eine zahlenmäßig relevante Unterschicht gibt. Wenn Miegel recht hätte, könnte man die Arbeitslosigkeit und die Armut damit beseitigen, indem man das Transfersystem in der Form umstellt, dass Hartz IV-Empfänger ihre Bezüge täglich in bar von einem offenen Schalter auf dem Marktplatz abholen müssten und dabei ein Führungszeugnis vorlegen, das von ihren – leistungswilligeren – Nachbarn ausgestellt wurde. Herr Müller hat diese Woche kein Bier getrunken und ist jeden Morgen brav um 8.00 Uhr aufgestanden, leider kann er allerdings immer noch nicht von den Zigaretten lassen. Gut, das gibt 20% Abzug bei den Leistungen – der Nächste bitte.
Professor Unsinn übertrifft sich selbst
Doch Gabor Steingart hin, Meinhard Miegel her – niemand kann die verqueren Gedanken der neoliberalen Vordenker so schön verquast darstellen wie der allseits beliebte „Professor Unsinn“. Die neueste These von „Deutschlands klügstem Professor“ (Bildunterschrift bei Sandra Maischberger) ist, dass der Sozialstaat die Unterschicht erst hervorgebracht habe. Um in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen, müsse man – so Hans-Werner Sinn – schließlich dem Arbeitsmarkt den Rücken kehren. Dass Menschen eine Prämie dafür bekommen, wenn sie „sich aus der Arbeitsgemeinschaft ausgliedern“, sei ein falscher Anreiz, so Sinn. Ein gestandener Ökonom geht demnach davon aus, dass Hartz IV-Empfänger sich quasi selbst entlassen haben, um in die Vorzüge einer üppigen Apanage aus der Staatskasse zu kommen. Wenn man Hartz IV also einfach streichen würde, würden diese Schmarotzer schon am nächsten Tag die Bierflasche aus der Hand legen, ihren Jobs als Biochemiker oder Fondsmanager wieder nachgehen und Start-Ups gründen, dass selbst das Silicon Valley gegen die brandenburgische Pampa aussähe wie ein strukturschwache Zone? Früher hätte ein Ökonom für eine solche These einen Satz heißer Ohren bekommen – heute hagelt es Einladung in TV-Talkshows.
Natürlich glaubt dem Gartenzwerg unter den deutschen Fernsehscharlatanen auch dort niemand, dessen IQ oberhalb der Raumtemperatur liegt. Aber dies ist die Strategie der geistig-moralischen Wende. Zunächst werden die Kettenhunde und Rampensäue losgelassen und das Volk freut sich, dass endlich mal jemand so mutig ist, die Wahrheit auszusprechen, auch wenn das jetzt natürlich überspitzt ist. Dann kommen die „gemäßigten“ Moderatoren und setzen das Gekeife der Herren Professoren in weniger schrill klingende wohlfeile Worte und schließlich Gesetze um. Erst wenn der letzte Bandarbeiter als flexibler Wanderbeiter beschäftigt ist und die letzte Kassiererin ihren Hartz IV-Aufstocker kassiert, werden die Wähler merken, dass ihre persönliche Freiheit nichts mit der Freiheit der Märkte zu tun hat.
Jens Berger
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