Samstag, 28. November 2009

Die Aktenkilometer-Mär

Als ich die Unterlagen des MfS, die zu meiner Person aufgefunden wurden, besichtigen durfte, fiel mir auf, daß die zwei Akten nur Teilbestände der langjährigen MfS- Erfassung waren und mir das Lesen der vollständigen Akten von der BStU verweigert wurde. Dies obwohl die beiden Akten ausschliesslich meine Person betrafen. Der Anteil, den ich nicht einsehen durfte, betrug bei der einen Akte geschätzt 70 Prozent. Ich nahm mein Recht in Anspruch, gegen Bezahlung Aktenkopien von meinen Akten anfertigen zu lassen. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Namen Dritter in den Kopien geschwärzt werden, aber sonst nichts. Das große Erstaunen überkam mich, als ich diese Kopien per Post erhielt. Von einer Aktenseite wurde sogar über die Hälfte komplett geschwärzt. Ich hatte noch in Erinnerung, daß dort eine Personeneinschätzung über mich und teilweise auch über einen Freund gestanden hatte. Seinen Namen zu schwärzen, wäre legal gewesen. Den gesamten Text zu schwärzen, bleibt das Geheimnis der BStU.
Das Fazit, daß ich damals aus dieser Erfahrung zog, war, daß ich der Bundesregierung und ihrer BStU keinerlei Vertrauen entgegenbringen kann und in der BStU politisch- korrekt gearbeitet wird. Das soll heissen, daß die BStU ein Propagandainstitut ist, welches nur im Sinne der Bundesregierung und ihrer Zentrale in Übersee arbeitet. Dieses Institut dient keiner wissenschaftlichen Aufarbeitung, sondern einer ideologischen Zubereitung.
Aus diesem Grund ist es immerwieder interessant für mich, auch der Gegenseite meine Aufmerksamkeit zu schenken, da diese Seite die einzigste Partei in diesem Trauerspiel ist, der an einer wissenschaftlich fundierten Aufklärung gelegen ist. Das ist meine Erfahrung der letzten Jahre. Gewiss habe ich genügend Gründe, dem MfS und den Behörden der DDR feindlich gegenüberstehen zu können. Doch geht es mir nicht darum, nach einen Feind zu treten, den es nicht mehr gibt. Mir geht es darum, daß eine möglichst große Gerechtigkeit erreicht werden soll. Dies funktioniert nur mit bedingungsloser Sachlichkeit. Die DDR konnte meine Persönlichkeit nicht brechen und die BRD wird dies auch nicht schaffen. Mein Idealismus, meine Werte und meine Prinzipien werden erst aus dieser Welt sein, wenn ich eines Tages nicht mehr bin. So lange sind sie mein unverbrüchliches Gut, unkorrumpierbar durch ideologisch verblendete Verbrecher.

Analyse: 180000 laufende Meter Unterlagen der DDR-Staatssicherheit sollen nach eigenen Angaben in der Birthler-Behörde lagern. Bei genauerer Betrachtung schmilzt der Datenbestand dahin.
Von Herbert Kierstein und Gotthold Schramm
Beide Autoren waren über Jahrzehnte beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig, Herbert Kierstein im Bereich »Spionagedelikte gegen die DDR« und Gotthold Schramm zunächst in der Spionageabwehr und dann für die Sicherheit der DDR-Auslandsvertretungen zuständig.
Anläßlich der Premiere ihres gemeinsam verfaßten Buches »Freischützen des Rechtsstaats – Wem nützen die Stasiunterlagen und Gedenkstätten?« veröffentlicht jW Auszüge aus dem gerade erschienenen Buch (Zwischenüberschriften von jW).
Zur Buchpremiere lesen beide Autoren am 1.12. um 19 Uhr in der jW-Ladengalerie in der Torstraße 6, Berlin-Mitte.(jW)
Die BStU (Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – d.Red.) war nie darauf aus zu versöhnen. Ihr Auftrag war das ganze Gegenteil. Sie stiftete und stiftet Unfrieden. (…) Selbst Institutionen wie der – der »Ostalgie« und der Nähe zum MfS (Ministerium für Staatssicherheit – d.Red.) unverdächtige, wohl aber der SPD nahestehende – Willy-Brandt-Kreis beurteilten kritisch den Auftrag und die Praxis der BStU: »Die Behörde war von Anfang an nicht als neutrale wissenschaftliche Einrichtung angelegt, sondern hatte eine politische Zweckbestimmung. Wie der damals zuständige Ministerialdirigent im Bundesinnenministerium erklärte, hatte der Sonderbeauftragte den Sonderauftrag, die DDR zu delegitimieren.
Gleichzeitig waren alle geheimdienstlichen Erkenntnisse über die Bundesrepublik streng geheim, sie stehen der kritischen Aufarbeitung nicht zur Verfügung. Damit begann eine auf ostdeutsche Repressionsgeschichte eingeengte, selektive Geschichtsschreibung, die nicht nur Alltagsgeschichte ausblendete, sondern auch Forschungsvorhaben, die nicht die gewünschte Delegitimierung erbrachten, unter den Tisch fallen ließen. (So wird beispielsweise bis heute die Zahl der tatsächlich bespitzelten DDR-Bürger, die Opfer einer »Operativen Personenkontrolle« wurden, geheimgehalten, weil mit ihr vermutlich das Bild von den flächendeckend kontrollierten Bürgern nicht aufrechtzuhalten wäre.)
Emanzipatorische Elemente wie die Brechung des Bildungsprivilegs in der DDR oder das Selbstbewußtsein von Produktionsarbeitern wurden genauso ausgeblendet wie Aspekte der bundesdeutschen Repressionsgeschichte. Mit ihrer Reproduktion von staatlich beaufsichtigter Geschichtswissenschaft hat die Behörde von Anfang an auch zu Fehlurteilen und Legendenbildungen beigetragen. Wenn in den alten Bundesländern und im Ausland das Bild der DDR als das eines reinen Unrechtsstaates vorherrsche, in dem alle Bürger entweder bei der Stasi gearbeitet haben oder von ihr beobachtet wurden, bei jeder mißliebigen politischen Äußerung im Gefängnis landeten und nur unter Lebensgefahr das Land verlassen konnten, so hat die Behörde ihren Auftrag erfüllt«, hieß es in der im Februar 2005 vom Willy-Brandt-Kreis abgegebenen Erklärung.
Und weiter hieß es dort: »Immer wieder hat die Behörde ›Personen der Zeitgeschichte‹ demontiert, die sich dem herrschenden Zeitgeist nicht gebeugt haben, während einstige IM, die sich jetzt opportun äußern, in Ruhe gelassen wurden. Dieser von der Behörde ausgeübte politische Anpassungsdruck lag nicht im Interesse von Demokratie! Laut Auskunft von Joachim Gauck haben 98 Prozent der DDR-Bürger nie für die Staatssicherheit gearbeitet. Dennoch haben nur 2,6 Prozent derselben Bevölkerung volles Vertrauen zu der Behörde, die absolute Mehrheit hat überhaupt kein, sehr wenig oder etwas Vertrauen, wie das sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg ermittelt hat. Die Behauptung der Behörde, ›der Geheimdienst hatte jeden Aspekt des Lebens durchdrungen‹, geht an der Erinnerung der meisten Menschen vorbei, erzeugt Überdruß, Abwehr und Trotz. So förderte die Behörde durch ihre ideologische Übertreibung gerade das, was sie vermeiden sollte, nämlich DDR-Nostalgie«, hieß es weiter, wobei sicher einschränkend angefügt werden muß: nicht nur »DDR-Nostalgie«, sondern grundsätzlichen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik und ihren Institutionen. »Wir brauchen eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte, die auch die westdeutsche Parallelgeschichte nicht ausblenden darf, weil sich nur in der Gesamtsicht Aktionen und Reaktionen erklären lassen« (so der Willy-Brandt-Kreis – d.Red.).
Die auf eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte gerichteten Bemühungen ehemaliger DDR-Bürger betrachtet die BStU offenkundig als Bedrohung der von ihr beanspruchten alleinigen Deutungshoheit. Sie reagiert abwehrend und beleidigend auf demokratische Wortmeldungen. Im Tätigkeitsbericht der Behörde von 2007 hieß es dazu entrüstet: »Frühere Verantwortungsträger und Profiteure der SED-Diktatur« meldeten sich »unverschämter denn je zu Wort. Ihnen ist die zunehmende Bereitschaft, sich kritisch mit der DDR auseinanderzusetzen, offenbar unerträglich. In dem Versuch, ihre Lebenslügen aufrechtzuerhalten, diffamieren sie Bemühungen um Aufarbeitung und beleidigen Diktaturopfer. Zahlenmäßig mögen diese betagten Anwälte der Unfreiheit nicht sehr ins Gewicht fallen, doch finden sie immer noch ihr Publikum.« Wer da »unverschämt« ist, liegt wohl auf der Hand. Allerdings fragt man sich: Wenn die Zahl der »betagten Anwälte der Unfreiheit« zahlenmäßig angeblich »nicht sehr ins Gewicht« fällt – warum dann soviel Aufhebens? 
177950 Meter Akten
»Viele von Ihnen wissen schon, daß wir insgesamt 180 Kilometer Schriftgut verwalten. Das ist ungefähr die Strecke von Berlin nach Leipzig. Im Vergleich dazu hat das Bundesarchiv zur Zeit vielleicht 240 Aktenkilometer.« So schwadronierte Marianne Birthler bescheiden vor dem Bundestagsausschuß für Kultur und Medien am 8. Februar 2006. Auf einen Vergleich der personellen und finanziellen Ausstattung verzichtete sie. Das Bundesarchiv hat rund 800 Mitarbeiter und einen Jahresetat von etwas über 50 Millionen Euro. Ihre Behörde verfügte zu jenem Zeitpunkt über die etwa dreifache Zahl von Mitarbeitern und einen doppelt höheren Etat. Das sagt viel über die Wertigkeit und die Bedeutung beider Einrichtungen für die herrschende Klasse.
Seit geraumer Zeit geistert die 2006 von Frau Birthler kolportierte Zahl der Aktenkilometer durch die Medien. Jene 180000 laufenden Meter sollen anschaulich die These von der »flächendeckenden Überwachung« stützen. Unter der Ägide Pfarrer Gaucks tauchten in der BStU erstmals Zahlen auf, die in ihrer Summe einen Bestand von 177950 Metern ergaben. Bis zu jenen 180 Kilometern von Frau Birthler fehlten damals also 2050 Meter. Nimmt man an, daß unser holzhaltiges Papier 0,2 mm je Blatt maß (was gewiß zu hoch angesetzt ist, aber sei’s drum), dann entspräche dies rund zehn Millionen Blatt Schriftgut. Wo kamen die plötzlich noch her? Vermutlich hat man die Zahlen so frisiert wie die Arbeitslosenstatistik oder die Inflationsrate nach der Euro-Umstellung.
Ursprünglich wurde nämlich das eingelagerte Material in folgende Kategorien unterschieden: »Schriftgut, sicherheitsrelevantes Schriftgut (was immer das heißen mag – d. Autoren) und Schriftgut auf Sicherungs- und Arbeitsfilmen, umgerechnet auf Papier.« In nachfolgenden Tätigkeitsberichten wurden die Kategorien und Charakteristiken fortlaufend geändert, man führte andere Begriffe ein, sortierte um, etikettierte neu. Dadurch wurde es Außenstehenden unmöglich zu vergleichen. Man kennt diese Praxis bei den Handytarifen: Ein prüfender Vergleich der unterschiedlichen Angebote ist nahezu unmöglich. Genau das wird mit den unvergleichbaren Koordinaten und Kriterien auch bezweckt.
Aber in den Tätigkeitsberichten der Behörde ging und geht es ja auch weniger um nachprüfbare Zahlen, sondern primär um Propaganda. Um Belege dafür, daß der politische Auftrag erfüllt wird. Daß die Steuermillionen als gut angelegt erscheinen. In der Politlyrik von Pfarrer Gauck las sich das 1994 so: Die DDR habe »zwar nicht wie das Dritte Reich Berge von Leichen hinterlassen, statt dessen aber nicht minder schreckliche Berge von Akten, die ganz schöne Hügel von Leichen und ein ganzes Gebirge von Entbürgerlichtem enthalten«. »Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, verpestet alles schon Errungene«, möchte man da mit Goethes Faust ausrufen, doch halten wir uns an die Zahlen. Im 8. Tätigkeitsbericht der Behörde wird der Aktenbestand im April 2007 so angegeben:
Zentralstelle und Außenstellen gesamtlfd. Meter
Archivbestand (Abteilung XII) [Schriftgut einschließlich Mikrofiches, Filme, Disketten usw.] 49554
Unterlagen der Diensteinheiten [Schriftgut einschließlich Karteien des MfS und spezieller Datenträger im unerschlossenen Bestand] 62428
Karteien 11744
Gesamt 123726
Demzufolge fehlten 2007 Frau Birthler schon mehr als 56 Kilometer oder 280 Millionen Blatt Aktenmaterial an den angeblichen 180 Aktenkilometern. Die Differenz erklärte sie mit Nachmessungen. 
Plötzlich 56 Kilometer weniger
Wie hat man damals und dann später gemessen, daß plötzlich 56000 Meter Akten fehlen konnten? Hatte man zuvor allzu großzügig aufgerundet, weil es politisch opportun schien? Und warum hatte sich nunmehr fast ein Drittel des angegebenen Aktenbestandes verflüchtigt? Diese Frage ist nicht nur rhetorischer Natur.
Lösten sie sich etwa ähnlich in Luft auf wie Teile der Akten von Rainer Eppelmann? Als der Expfarrer noch im Bundestag saß, erklärte er 1992 gegenüber dem Stern sein Erstaunen, daß die Kontakte zu CIA-Mitarbeitern aus seiner Akte bei der BStU verschwunden seien. Hat eine Institution nach Eppelmanns Akte gelangt und diese bereinigt, weil das Gesetz es befahl? Nach Paragraph 37 (1) Ziffer 3 Buchstabe c und d des »Stasiunterlagengesetzes« (StUG) sind geheimzuhalten und gesondert zu verwahren: Unterlagen über Mitarbeiter von Nachrichtendiensten des Bundes, der Länder und der Verbündeten sowie Unterlagen über Mitarbeiter anderer Nachrichtendienste bzw. über Mitarbeiter mit technischen oder sonstigen fachlichen Anweisungen oder Beschreibungen über Einsatzmöglichkeiten von Mitteln und Methoden auf den Gebieten der Spionage, Spionageabwehr oder des Terrorismus, wenn der Bundesminister des Innern im Einzelfall erklärt, daß das Bekanntwerden der Unterlagen die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde.
Verhält es sich so, dann bedeutet dies, daß vermutlich alle Akten von ehemaligen DDR-Bürgern, die vom MfS erfaßt wurden, weil sie bewußt oder unbewußt mit Geheimdienstmitarbeitern oder von diesen geworbenen Spionen in Kontakt standen, entsprechend »bereinigt« wurden. Man hat vorsätzlich Spuren verwischt, die auf andere Nachrichtendienste weisen. Das heißt: Betreffende erhalten eine unvollständige Akte, ohne daß ihnen dies bewußt wird. Sie erfahren weder, welche Blätter entnommen wurden, noch wird ihnen wegen dieser Lücken offenbart, warum das MfS so handelte. Die tatsächlichen Gründe für das Vorgehen bleiben im dunkeln. Es bleibt nur das Gefühl der Überwachung und Kontrolle. Vor diesem Hintergrund ist man natürlich für die Lüge von der flächendeckenden MfS-Willkür eher empfänglich.
Im Bericht aus dem Jahr 2007 sind auch 11744 Meter Karteien aufgeführt. Was steht dahinter? Unterstellt, daß es sich dabei um Unterlagen der Abteilung XII, der zentralen Auskunftskartei, handelte: Wie wurden die Karten gezählt und vermessen, die in der Regel als DIN-A-6 existieren?
Im Archiv der Abteilung XII sollen 49554 Meter Aktenmaterial vorhanden gewesen sein. Matthias Wagner, ein ausgebildeter Archivar, hat im Auftrag der Modrow-Regierung mit der Archivierung der Unterlagen des aufgelösten MfS begonnen. Er war auch am Aufbau der BStU-Archive beteiligt. Über den Ausgangsbestand der Abteilung XII berichtete er 2001 in einer Publikation: »Das Haus habe ein Fassungsvermögen von 30000 laufenden Metern Akten, erklärte unser Führer im dunkelblauen Kittel, dem die Seitentaschen fehlten. Gegenwärtig sei es mit 20000 Metern Akten und Karteien belegt.« Wie erklärt sich die Differenz von 29554 Metern?
Damit nicht genug. Offenkundig schlug man auch fremde Akten der »Stasi«-Hinterlassenschaft zu. So findet sich auf Seite 41 des 8. Tätigkeitsberichtes der BStU folgender bemerkenswerter Hinweis: »Nicht alle in Paragraph 6 StUG als Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bezeichneten Informationsträger, die in den von der Bundesbeauftragten verwalteten Archivablagen vorhanden sind, entstanden beim MfS selbst. Ein Teil hiervon sind Akten von Gerichten und Staatsanwaltschaften der DDR, die dem Staatssicherheitsdienst überlassen worden sind. Dabei handelt es sich etwa um Gerichtsakten von Staatsanwaltschaften und um Strafakten der allgemeinen Kriminalität. (…) Ebenfalls zu den nicht beim MfS entstandenen Ablagen gehören die Gefangenenakten der Verwaltung Strafvollzug des DDR-Ministeriums des Innern oder archivierte Akten zu einer Reihe von Verurteilten der Sowjetischen Militärtribunale.«
Verschwiegen wird hier, daß sich diese Materialien gemäß zentraler staatlicher Weisungen in den Archiven des MfS befanden und diese dem MfS nicht irgendwie überlassen wurden. Verschwiegen wird ferner, um wie viele Akten dieser Herkunft es sich handelt. Es finden sich keine Meterangaben. Also weiß man auch an dieser Stelle nicht, wie viele Aktenbündel abgezogen werden müssen, wenn man wahrheitsgemäß über den tatsächlichen Umfang von »Opfermate­rialien« redet oder schreibt. 
Charakter der Unterlagen
Von weitaus größerer Bedeutung als die Zahl der laufenden Meter ist die inhaltliche Qualität des Materials. Anders ausgedrückt: Was offenbart und wofür ist es im Sinne der BStU brauchbar? Sowohl unter Gauck als auch unter Birthler wurden Inhalt und Charakter der Unterlagen des MfS in den Tätigkeitsberichten prinzipiell verschleiert. Im Laufe der Jahre mußten jedoch Aussagen zu einigen bedeutsamen Vorgangsarten genannt werden, deren Inhalt in erster Linie Aufschluß über »Opfer« der DDR geben sollte. So zu Operativen Vorgängen (OV).
Bei solchen Maßnahmen wurden Personen von operativen Diensteinheiten bearbeitet, die im Verdacht standen, Staatsverbrechen oder andere für das MfS bedeutsame Straftaten begangen zu haben, oder vorhatten, solche zu begehen. Es handelte sich also um Vorgänge, deren Inhalt unmittelbar Absichten und Methoden der operativen Tätigkeit des MfS widerspiegelten.
Der 2. Tätigkeitsbericht der BStU (1995) gibt auf Seite 64 einen Hinweis auf 20520 Operativvorgänge, die im Zeitraum von 1950 bis 1989 von der Abteilung XII archiviert worden waren. Die Zahl der noch nicht archivierten, also der in den Diensteinheiten 1989 noch laufenden OV, ist darin nicht ausgewiesen. Ihre Zahl dürfte aber zu vernachlässigen sein. (…) Auch wenn die BStU die Erklärung zum auffälligen Rückgang der Operativen Vorgänge in den 70er und 80er Jahren schuldig bleibt – eine behauptete wachsende Repression durch das MfS läßt sich daraus jedenfalls nicht ableiten.
Operativvorgänge, die in Bezirksverwaltungen sowie von Kreis- und Objektdienststellen archiviert wurden, sind nicht ausgewiesen. Es wäre ein Leichtes gewesen, die OV zu charakterisieren. Denkbar wäre eine Beurteilung der Vorgänge nach folgenden Fragen, womit man auch zu einer qualitativen Bewertung käme: Welcher Tatverdacht bestand? Anzahl der bearbeiteten Personen? Welches Ziel wurde mit dem OV verfolgt (Inhaftierung, Anwerbung etc.)? Zeitraum der Bearbeitung? Mit welchem Ergebnis wurde der Vorgang abgeschlossen? Eine qualitative Aufbereitung unterblieb. Warum? Soll im dunkeln bleiben, wie viele Vorgänge wegen NS-Verbrechen, Spionage, Sabotage, Wirtschaftsstraftaten, kriminellem Menschenhandel, Gewalttaten, staatsfeindlicher Propaganda usw. bearbeitet wurden?
Insbesondere die Ergebnisse, mit denen die Operativen Vorgänge abgeschlossen wurden, wären von Bedeutung. Wie viele solcher Vorgänge wurden durch Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (EV) nach welchen Straftatbeständen beendet? Wie viele der Vorgänge wurden eingestellt, weil sich der Verdacht nicht bestätigte oder weil andere Gründe vorlagen? Tatsächlich endeten lediglich 30 Prozent der OV mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Also zwei von drei Operativen Vorgängen erwiesen sich als strafrechtlich nicht relevant und wurden eingestellt.
Aus dem gleichen 1995er BStU-Bericht stammen auch die Angaben über die von der Hauptabteilung IX (HA IX) zwischen 1950 und 1989 archivierten Untersuchungsvorgänge (UV), also Ermittlungsverfahren. Insgesamt 17544 wurden in diesem Zeitraum archiviert. Auch hier fehlen charakterisierende Kriterien, die eine Beurteilung des Verfahrens erlaubten: Einleitungstatbestand (welche Paragraphen des StGB/DDR wurden im Schuldvorwurf genannt?). War eine operative Bearbeitung der Ausgangspunkt? Zeitraum der Bearbeitung. Abschlußtatbestand – erfolgte eine Übergabe an den Staatsanwalt? Wurde Anklage erhoben? Erfolgte eine gerichtliche Verurteilung? Wenn ja: nach welchen Paragraphen?
Es gab auch Fälle, in denen Ermittlungsverfahren eingestellt, an die Deutsche Volkspolizei oder an ein Gesellschaftliches Gericht (Paragraph 58 StPO der DDR) zur weiteren Bearbeitung und Entscheidung übergeben wurden.
In höchstem Maße verwunderlich ist, daß der Inhalt dieser Untersuchungsverfahren weder in den Tätigkeitsberichten der BStU Erwähnung findet noch in den vielfältigen Schuldvorwürfen gegen das Untersuchungsorgan des MfS jemals eine Rolle spielte. Darauf wird an anderer Stelle noch detailliert einzugehen sein. Deshalb an dieser Stelle nur einige Hinweise zum Wert dieser Vorgänge. Sie geben konkreten Aufschluß über den Schuldvorwurf, zu Konzepten sowie zum zeitlichen Verlauf operativer und strafrechtlicher Ermittlungen. Sie enthalten Beweismittel oder geben Hinweis, wo diese zu finden sind und bieten auch detaillierte Ansatzpunkte zur Überprüfung des Ablaufs von Vernehmungen und anderen Untersuchungshandlungen. Selbst zu den Bedingungen der Untersuchungshaft finden sich dort Aussagen. Sind das die Gründe, weshalb an diesem Punkt pauschaliert wird, statt konkret zu werden?
Eine dritte Möglichkeit einer realistischen Bewertung der Tätigkeit des MfS war seit 1972 die Operative Personenkontrolle (OPK). Sie erfolgte zur vorbeugenden Aufklärung oder Sicherung von Personen. Nicht mehr als zehn Prozent wurden in einen Operativen Vorgang überführt, wobei einige Zielpersonen als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) geworben wurden. Etwa 90 Prozent der Operativen Personenkontrollen wurden ohne jegliche Folgen für die erfaßte Person eingestellt und archiviert.
Laut BStU wurden von operativen Diensteinheiten des MfS Berlin 7998 Operative Personenkontrollen im Zeitraum 1972 bis 1979 und 13 289 OPK von 1980 bis 1989 archiviert. Auch hier wäre eine entsprechende Charakterisierung nützlich und hilfreich. Vorausgesetzt, es ginge um eine sachliche Darstellung. Entgegen der sonstigen Verfahrensweise wurden durch die BStU zu den erläuterten drei Vorgangsarten, deren Inhalt Aufschluß über den Umfang der »Opferproduktion« geben könnte, keine Aktenkilometer ausgewiesen.
Ähnlich wie in der Bundesrepublik erfolgten in der DDR Sicherheitsüberprüfungen von Personen, denen bestimmte Aufgaben, Befugnisse oder Vollmachten erteilt werden sollten. Welchen Umfang die meist positiven Ergebnisse dieser Überprüfungen im Aktenbestand des MfS einnehmen, ist weder in Zahlen noch in laufenden Metern ausgewiesen. Unbekannt ist auch die Zahl der laufenden Meter, welche die im Zeitraum von 1950 bis 1989 abgelegten 228 030 IM-Akten einnehmen würden. 
70 Kilometer ungeeignet
Soweit es das Ziel ist, den zahlenmäßigen Umfang und das Ausmaß der Beeinträchtigung oder Verfolgung potentieller »Opfer« durch das MfS zu untersuchen, müßten darüber hinaus, aus offensichtlichen Gründen, folgende Unterlagen aus den bisher publizierten Zahlen ausgegliedert werden:
– In der Rubrik: Unterlagen der Diensteinheiten (Schriftgut einschließlich Karteien des MfS und spezieller Datenträger im unerschlossenen Bestand) sind Diensteinheiten erfaßt, die keinen unmittelbaren Bezug zur operativen Arbeit hatten, wie Kaderabteilung, Parteileitung, Medizinischer Dienst, Finanzen, Auswertungs- und Informationsgruppen, Wach- und Sicherungseinheiten, Baubetriebe und Randbereiche bis hin zur Sportvereinigung Dynamo. Deren Materialbestand beläuft sich auf insgesamt rund 14000 laufende Meter.
– Etwa 50000 Akten über Objekte und Personen gegnerischer Geheimdienste und anderer gegen die DDR tätiger Zentralen (ohne Angabe der laufenden Meter)
– Im Archiv des MfS befinden sich des weiteren Unterlagen und Beweisdokumente aus der Zeit des Faschismus. Diese Aktenbestände belaufen sich laut BStU auf 11000 Meter.
– Der Aktenbestand zu allen seit 1950 im MfS tätig gewesenen Mitarbeitern, Zivilangestellten sowie Unteroffizieren auf Zeit, die ihren Dienst im MfS versahen, beträgt etwa 12500 Meter.
– Ebenfalls im Archiv des MfS finden sich 1555 Meter Personalunterlagen des ehemaligen Wachregimentes »Felix Edmundowitsch Dzierzynski«.
– Letztlich wurden dem »Opferberg« auch noch rund 22000 Meter archivierter Unterlagen über abgelehnte Einstellungsvorschläge, Schriftgut, Karteien, Bild- und Tonträger aus dem gesamten Kaderbereich zugeschlagen.

Matthias Wagner benannte in seinem Buch (»Das Stasi-Syndrom«, Berlin 2001 – d.Red.) eine weitere Kategorie: »Mir wurde sofort bewußt, daß die 10000 Meter Reserve nicht genügen würden, um alle Papiere aufzunehmen, die nun aus den anderen Häusern kommen würden. Darunter würde gewiß auch Nutzloses sein. Die Verwaltung Rückwärtige Dienste, die zirka 12000 Meter abliefern sollte, brachte auch die abgerissenen Essenmarken, die über Monate erfaßt worden waren, ins Archiv. Aber da kein Stück Papier vernichtet werden durfte, blieben die Marken in den Akten.«
Eine Zusammenfassung – inklusive der Essenmarken – der dazu angegebenen laufenden Meter ergibt mehr als 70000 Meter Aktenmaterial, das als »Opferbeweis« nicht geeignet ist. Keine unbedingt scharfe Munition gegen das MfS. Aber als Füll- und Schwungmasse taugt es durchaus. Mit Masse läßt sich noch immer beeindrucken.
Trotz der offenen Fragen und fehlender Angaben über laufende Meter benannter Aktenbestände soll nachfolgend der Versuch einer zusammenfassenden Übersicht gemacht werden, welche den Verdacht bewußter Verschleierung stützt:
Aktenbestand der BStU – Widersprüche und Fragen lfd. Meter
Im Jahre 1993 meldete die Gauck-Behörde einen Gesamt-Aktenbestand von: 177950.
Bis 2006 war dieser angewachsen auf 180000
Ein Jahr danach hatte sich der Bestand verringert auf 123726.
Bei einer Kategorisierung nach Inhalt und Charakter müßten zirka 70000 Meter, die für eine Kriminalisierung des MfS bzw. den »­Diktaturenvergleich« nicht geeignet sind, gesondert ausgewiesen werden. Es bliebe ein Bestand von 53726.
Auch diese Zahl ist noch relativ, da zu bedeutenden Materialien – die nicht mit der Personenbearbeitung in Verbindung zu bringen sind – keine laufenden Meter ausgewiesen wurden.
Im Hinblick auf die operative Bearbeitung von Personen ließe sich konkret bestimmen, wie viele Aktenkilometer dazu existieren. Beachtet werden müßten in diesem Zusammenhang die Ergebnisse sowie die Tatsache, daß zu einer Person Operatives als auch Aktenmaterial aus Ermittlungsverfahren existieren kann, welches in den Archiven getrennt abgelegt sein dürfte. Erst eine Darstellung der Anzahl von Personen – gegliedert nach den Ergebnissen ihrer Bearbeitung – und der ihnen jeweils insgesamt zuzuordnenden laufenden Meter Aktenmaterial ergäbe ein realistisches Bild.
Würde die BStU darüber hinaus die laufenden Meter des Aktenmaterials benennen, die tatsächlich zu Anträgen auf Rehabilitierung/Wiedergutmachung existieren, wäre das von ihr vorgegebene »Opferpotential« im wesentlichen bestimmbar. Innerhalb dieser Kategorie müßte dann differenziert werden zwischen tatsächlichen Opfern und aus politischen Gründen rehabilitierten Straftätern wie etwa den Terroristen Burianek und Kühn, Tausenden Spionen, Hunderten Saboteuren, Menschenhändlern und anderen nach internationalen Maßstäben schuldig gewordenen Tätern, die juristisch nicht Opfer sein können.
Es bliebe dann ein Aktenbestand übrig, der weitaus weniger betrüge als die von der BStU propagierten Zahlen. Behauptungen über eine flächendeckende Überwachung der DDR-Bürger und ausufernde Repressionen wären damit widerlegt.


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