Mittwoch, 25. Mai 2011

Bundeskriminalamt wirbt für Piratenpartei

Nur 2 Tage vor den Landtags-/Bürgerschaftswahlen am 22.05.2011 in Bremen verhalf das Bundeskriminalamt (BKA) der Piratenpartei zu einer wirksamen Wahlwerbung, indem es deren Webserver für einige Stunden außer Betrieb setzen ließ. Die Piraten nutzen das Erregungspotential und freuen sich über das Timing. Ungeschickter hätte das BKA kaum vorgehen können.
Das BKA ermittelt: absurder Sachverhalt? 
Am letzten Freitag stellte das BKA – als Amtshilfe für französische Ermittler – Daten von „Piratenpad“-Servern sicher. Der „Piratenpad“ entspricht „Google Docs“ und ermöglicht eine anonyme simultane Zusammenarbeit mehrerer Nutzer an Dateien. Die Datei, um die es geht, ist ein SSH-Schlüsselprogramm, mit dem noch gar nichts verbrochen wurde, das aber theoretisch für einen Zusammenbruch der Website des französische Energiekonzerns EDF eingesetzt werden könnte. Das wirft einige Fragen auf:
Warum betont man, daß ein Atomkraftwerksbetreiber betroffen sei, obwohl es nur um eine völlig uninteressante Homepage geht, die der Welt nicht fehlen würde, schon gar nicht, wenn sie nur einige Stunden offline wäre?
Warum ermittelt das BKA in einem Fall, in dem noch gar kein Verbrechen begangen wurde, sondern allenfalls eine theoretische Möglichkeit zu einem Vergehen ohne nennenswerte Schäden bestand?
Warum hat man den Server nicht gespiegelt, lediglich die Originalfestplatte für eine Untersuchung gelöschter Daten untersucht und die Unterbrechung der Webseite nicht vermieden?
Warum konfisziert man Festplatten, wenn die einzigen theoretischen Spuren die IP-Adressen der Beteiligten sind, das „Piratenpad“ aber gar keine IP-Adressen speichert?
Warum nutzten die Hacker das Piratenpad und nicht Google Docs oder anonyme Mail Accounts?
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß Mitglieder/Sympathisanten der Piratenpartei – der Lieblingspartei aller Hacker – die potentiellen (!) Hacker sind?
Beweist die Ahnungslosigkeit des Piratenparteivorstands die Nicht-Beteiligung von einzelnen Mitgliedern (da es keine Tat gab, kann man nicht einmal von Tätern sprechen)?
Die Aktion des BKA macht also – sofern die Medienberichte zutreffen – ermittlungstechnisch keinen Sinn. Bis auf Wahlwerbung für die Piratenpartei konnte das BKA gar nichts erreichen. Was hat das BKA also veranlasst, bewußt oder unfreiwillig eine Wahl zugunsten einer Partei zu beeinflussen – und das unmittelbar vor einer Wahl? Was sagt der CSU-Innenminister als oberster Dienstherr dazu?
Ideale Voraussetzungen für die Piratenpartei in Bremen 
Kein Bundesland ist so ideal für Kleinparteien wie Bremen. Kein Bundesland ist so bankrott. Bei Armut und Arbeitslosigkeit liegt Bremen (neben Berlin) ganz hinten, und kein Land ist von Fläche und Wählerzahl her so klein. Noch dazu ist die Wahlbeteiligung hier besonders gering, was für Klientelparteien aufgrund ihrer stärkeren Mobilisierungskraft ein zusätzlicher Vorteil ist. In Bremen kann man daher als Kleinpartei mit weniger Aufwand als in allen anderen Bundesländern Erfolge erzielen.
Und nun erhält die Piratenpartei mit optimalem Timing auch noch Publicity vom BKA – und zwar genau mit dem Thema, das ihre Klientel am stärksten mobilisiert. Davon können Vorstände anderer Kleinparteien nur träumen. Eine Kleinpartei als Opfer der Staatsmacht… wen muß man als Vorstand einer anderen kleinen Partei beim BKA anrufen, um seine Server für ein paar Stunden offline nehmen zu lassen und eine umfangreiche Medienberichterstattung genießen zu dürfen? Wie gelangt man an harmlose Dateien, bei denen das BKA durchdreht, um sie unmittelbar vor den Berlin-Wahlen im September anonym online zu stellen?11.901 Matrosen als Steuermänner und die Volksfront von Judäa
Mit dem o.g. Nicht-Wissen des Vorstands sind wir bei einem Knackpunkt der Piratenpartei. Sie vertritt einen eigentlich sehr sympathischen, radikaldemokratischen Führungsstil: „Keine Macht für niemanden“, also Anarchie pur: 11.901 Mitglieder (Stand: 22.05.2011) haben alle den gleichen Einfluß auf Programm und Strategie der Partei. Der Vorstand erfüllt eine bloße Repräsentations- und Verwaltungsfunktion. Lt. § 12 ihrer Satzung bedarf jede Programmänderung einer 2/3-Mehrheit der Mitgliederversammlung.
Um Metaphern zu nutzen, die die Piraten so gern verwenden: Ihr Schiff hat keinen Kapitän, dafür aber 11.901 Matrosen, die allesamt gleichzeitig Steuermänner sind. Eine Richtung kann erst festgelegt werden, wenn sich 2/3 der Matrosen einig sind. Folge: So lange das so ist, kann das Schiff keinen Hafen erreichen, sondern dreht sich mit 11.901 durcheinander paddelnden Rudern auf der Stelle. Und eine Kapitänswahl kann da auch schon mal 10 Stunden dauern.
Zentrale Quelle aller Entscheidungen bei den Piraten sind deren 129 Arbeitsgemeinschaften (AGs) wie z.B. die AG „Transhumanismus“ (Fragestellungen: „Wie wäre es mit einem Nanocompiler, der dich mit jedem beliebigen materiellen Objekt beliefert, so dass du nie wieder einkaufen und Geld ausgeben musst? Oder Urlaub auf anderen Planeten? Oder Verstärkung des Gehirns durch implantierte Quantencomputer? Oder Uploading deines gesamten Ichs in den Speicher eines Hypercomputers?“
Weitere AGs sind die AG „Pirate Identity“ und die „AG Piratenidentität“, was an die „Judäische Volksfront“ und die „Volksfront von Judäa“ erinnert. Die AG „Zukunftsvision“ hat bisher 2 Visionen: Wasserverbrauch in Haushalten sowie Verkehrsreorganisation. Dazu gehören „Trenntoiletten/Trockenklos“ und Transrapid über den Autobahnen. Die konkurrierende AG „Nachhaltigkeit“ ist derzeit inaktiv. Wie zieht man Zuständigkeitsgrenzen zwischen den AGs „Sozialpolitik“, „Sozialversicherung“ und „Sozialstaat und Unterhalt“? Oder zwischen den AGs „Wirtschaft“ und „Wirtschaftspolitik“?
Wer koordiniert die 129 AGs? Theoretisch die „AG Parteiprogramm“. Ganz oben auf deren Webseite steht: „Da die breite Unterstützung aller Piraten bisher ausbleibt, wird diese AG vorerst stillgelegt.“
Die Piratenpartei braucht nichts dringender als ein Vollprogramm, das die wichtigen Probleme Deutschlands adressiert. Das erkannte auch Christopher Lauer, der beim Bundesparteitag am 13.05.11 als Bundesvorsitzender kandidierte, mit den Worten: „Allein mit heißer Luft, liebe Piraten, treibt man kein Schiff an.” Stattdessen wählten die Mitglieder Sebastian Nerz, der eine Erweiterung des 3-Punkte-Programms auf unabsehbare Zeit ablehnt. Klare Aussage der Mitgliederversammlung: „Mehr als 3 Programmpunkte wollen wir nicht.“
Die 3-Punkte-Partei
Der Piratenpartei wird oft vorgeworfen, sie sei eine reine Internet-Spaßpartei oder 2-Punkte-Partei. Das stimmt nicht ganz. Die Piratenpartei ist eine 3-Punkte-Partei: Freies Internet, Abschaffung des Urheberrechts und Datenschutz sind die Kernthemen. Darüber hinaus gibt es die üblichen Forderungen aller Parteien nach einem besseren Bildungssystem, Nachhaltigkeit, etc., aber keine Erläuterung, wie man es finanzieren will.
Konzepte zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Niedriglöhnen, Kinderarmut, Altersarmut, Geburtenmangel, Staatsverschuldung, Finanznöte und Kostendruck im 2-Klassen-Gesundheitssystem, etc.? Fehlanzeige. Dabei haben die Piraten den anderen großen (und fast allen kleinen) Parteien die Ehrlichkeit voraus, zu ihrem Programmvakuum zu stehen. Die Piraten erklären sogar: „Die Piraten eine Ein-Themen-Partei? Danke für das Kompliment.“ Begründung: Die Piraten wollen keine Programmpunkte bei Themen, von denen sie nach eigenem Bekenntnis nichts verstehen. Auch das haben sie vielen anderen Parteien voraus. Immerhin. Aber ist „erst eine Partei gründen, und dann schauen wir mal nach Inhalten“ nicht die falsche Reihenfolge?
„Kentern“ und „Schiffbruch“ – oder Nutzung des Potentials?
Unter „Piraten erleiden Schiffbruch“ und „Klar zum Kentern“ beschreibt der Spiegel, aus welchen Gründen die Piratenpartei ihre Zukunft hinter sich hat, wenn sie weiter macht wie bisher. Nicht nur die Wähler wenden sich enttäuscht von deren Bewegungsunwilligkeit ab. Auch die Mitglieder – gerade die aktiven – wollen eher früher als später die Piratenpartei in Landtage und Bundestag einziehen sehen. Es besteht also die Gefahr, daß die Partei durch Enttäuschung implodiert.
Das BKA hat der Piratenpartei in Bremen den Ball nun auf den Elfmeterpunkt gelegt. Bei Redaktionsschluß lag das Wahlergebnis der Piraten nach 137 von 507 Wahlbezirken bei 1,7%. Sollte das Endergebnis am Mittwoch, wenn das Endergebnis ausgezählt ist, trotz dieser günstigen Umstände nicht erheblich besser liegen, muß sie sich fragen, ob sie in der 1-2%-Stagnation (siehe auch Wahlen in NRW 2010, BW 2011 und RLP 2011) verharren oder mit einem richtig guten Programm zu den wirklich wichtigen Themen durchstarten will. Dazu müßte sie auch ihre Entscheidungsfindungsstrukturen ernsthaft überdenken.
Piraten, Ihr seid (abgesehen von Rechtsradikalen) der Liebling der Medien! Macht endlich was daraus! Schicke T-Shirts und Fahnen genügen nicht!
Ihr
Jörg Gastmann [Bürgerstimme.com]

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